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Interview zum Arbeitsmarkt

Martina Musati: „Die Arbeitslosigkeit wird auch 2025 weiter wachsen“

Die Arbeitslosigkeit wächst seit Mitte 2022 – mit aktuell 4,6 Prozent ist sie moderat. Zwar führt die schwache Konjunktur und die Transformation zu Entlassungen, wie Martina Musati sagt, die für die Arbeitsagenturen zuständig ist. Aber es gibt zugleich neue Jobs in anderen Branchen. Zudem sieht Musati Chancen, neue Beschäftigung aufzubauen. Vor allem in den „grünen Berufen“.

Martina Musati leitet die Regionaldirektion Baden-Württemberg der Bundesagentur für Arbeit.

Achim Zweygarth)

Staatsanzeiger: Bosch, ZF Friedrichshafen und andere: Es häufen sich die Meldungen über Entlassungen. Wie beurteilen Sie die Situation?

Martina Musati: In Baden-Württemberg sind mehr als ein Viertel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Verarbeitenden Gewerbe tätig, darunter rund eine Million in der Metall- und Elektroindustrie – mehr als in jedem anderen Bundesland. Die Industrie ist nicht nur von der Konjunkturschwäche, sondern auch von der Transformation betroffen. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist im Verarbeitenden Gewerbe im Jahr 2024 gegenüber dem Vorjahr um rund 20 000 Beschäftigte zurückgegangen. Wir sind mitten in großen Veränderungen.

Das Baugewerbe ist weniger von der Transformation betroffen, aber in einer konjunkturell schwierigen Phase. Spüren das die Arbeitsagenturen?

Wir sehen einen deutlichen Anstieg von Arbeitslosen aus dem Baugewerbe. Die Zahlen haben sich wie in der Industrie überdurchschnittlich entwickelt. Für die Zeit zwischen 2018 und 2024 verzeichnen wir ein Plus von 13 Prozent. Sollten sich die derzeitigen Hemmnisse von hohen Baupreisen und gestiegenen Zinsen lösen, dann werden angesichts der altersbedingten Abgänge aus dem Erwerbsleben viele Bauberufe wieder zu Engpassberufen. Die Transformation ist wesentlich auf das Baugewerbe angewiesen. Denken wir an die Energietechnik oder Gebäudedämmung.

Die Zahl der Arbeitslosen wächst – zugleich melden die Statistiker, dass es noch nie so viele Erwerbstätige wie derzeit gibt. Wie passt das zusammen?

Das Beschäftigungswachstum hat sich in Baden-Württemberg verlangsamt. Wir rechnen für 2025 mit einem Beschäftigungswachstum von nur noch 0,4 Prozent. Und das wird überwiegend durch einen Zuwachs an Beschäftigung von Ausländern getragen. Ich finde, der zweigeteilte Arbeitsmarkt zeigt, dass es durchaus Chancen gibt. Es ist positiv, dass bestimmte Branchen mehr wachsen, als die von Umbrüchen betroffenen Bereiche Beschäftigung verlieren.

Die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarkts für Menschen, etwa aus dem gewerblichen Metall- und Elektrobereich, nimmt ab. Was macht man als Arbeitsagentur mit Metallern, die 30 Jahre beim Autozulieferer waren, die an sich hoch-qualifiziert sind?

Eine Arbeitsmarktpolitik, die Übergänge am Arbeitsmarkt aktiv fördert und sicher gestaltet, gewinnt immer mehr an Bedeutung. Ein Beispiel sind lokale Arbeitsmarktdrehscheiben. Die Idee ist, Beschäftigte von Unternehmen, die Arbeitsplätze abbauen, regional mit Unternehmen zusammenzubringen, die Mitarbeiter suchen.

Und die Drehscheiben funktionieren?

Sie funktionieren im Kleinen. Wir arbeiten daran, denn es lohnt sich, in diesen Ansatz zu investieren. Die Vorteile liegen auf der Hand: Beschäftigung wird gesichert, Fachkräfte bleiben in der Region, Arbeitslosigkeit wird vermieden. Es gibt allerdings auch Hemmnisse. Fehlende Qualifikationen für den neuen Arbeitsplatz können wir durch Qualifizierung beheben. Ein weiteres Hemmnis sind deutlich höhere Tarifverträge in der Industrie, die zum Beispiel einen Wechsel ins Handwerk erschweren, wenn man ausschließlich auf das Anfangsgehalt schaut.

Die Arbeitslosigkeit ist allen Problemen in der Wirtschaft zum Trotz aktuell mit 4,6 Prozent moderat. Wie ist Ihr Ausblick für das laufende Jahr?

Die saisonal bereinigte Arbeitslosigkeit wächst seit Mitte 2022. Wir hatten im Jahr 2024 einen Anstieg um rund neun Prozent. Für 2025 rechnen wir mit einem weiteren Anstieg. Allerdings wird er mit einem Plus von 2,6 Prozent deutlich moderater ausfallen.

Sehen Sie durch die Entlassungen eine Entspannung beim Fachkräftebedarf?

Eher nein. Ich möchte dafür drei Entwicklungen anführen. Punkt 1: Es gibt Berufe mit Arbeitsplatzabbau, bei denen allein aufgrund der demog rafischen Entwicklung weiterhin Engpässe entstehen werden. Dies gilt zum Beispiel für den Metallbau und die Schweißtechnik. Punkt 2: Denken Sie an die ökologische Transformation, etwa die Mobilitätswende, mit dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Da ist zum einen der Ersatzbedarf aufgrund von Demografie plus der Zusatzbedarf, damit die Mobilitätswende gelingt. Wir brauchen dringend mehr Fachkräfte für Bus und Bahn.

Und der dritte Punkt?

Die Energie- und Wärmewende erfordert auch viele neue Fachkräfte, etwa für die regenerative Energietechnik oder die Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik. Eine neue IAB-Studie zeigt, dass über ein Viertel der Berufe inzwischen Green-Skills-Berufe sind. In den Green Skills steckt Potenzial.

Welches sind die Berufsfelder, wo Arbeitnehmer dringend gesucht werden?

Die gesellschaftlich notwendigen Dienstleistungen wachsen. Dazu zählen vor allem das Gesundheitswesen und die Pflege sowie die Bereiche Bildung und Erziehung – die öffentliche Verwaltung nicht zu vergessen. Gesucht wird auch in den Informations- und Kommunikationstechnologien, etwa in der Softwareentwicklung – kurz: alle Berufe, die zu Digitalisierung und KI beitragen. Forschung und Entwicklung ist auch ein Zukunftsbereich, gerade im Innovationsland Baden-Württemberg. Auch das Handwerk sucht Arbeitskräfte.

Die Transformation der Wirtschaft könnte zu einem Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen führen. Wie sehen Sie das?

Transformation bedeutet Umbrüche. Hinzu kommt die negative Wirkung der demografischen Entwicklung. Arbeitsplätze gehen verloren, aber auf der anderen Seite entstehen auch neue. So haben wir zum Beispiel in den Berufen mit Green Skills einen Zuwachs an Beschäftigung – in den letzten zehn Jahren um rund 326 000 Arbeitsplätze. Nach einer aktuellen Projektion könnten bis 2040 in Baden-Württemberg insgesamt rund 264 000 Arbeitsplätze neu entstehen. Allerdings wird unter dem Strich die Erwerbstätigenzahl in 2040 nicht mehr so hoch wie aktuell sein und bei rund 6,3 Millionen liegen. De facto würde dies ein Minus von 120 000 Erwerbstätigen bedeuten – immer unter den aktuellen Annahmen. Dies zeigt: Der beschleunigte Wandel bringt große Herausforderungen, aber auch Chancen mit sich. Neue Arbeitsplätze entstehen, andere fallen weg und Berufsanforderungen verändern sich.

Das Gespräch führten Jürgen Schmidt und Wolfgang Leja

Entspannung beim Fachkräftebedarf? „Eher nein“, sagt Martina Musati im Gespräch mit den Staatsanzeiger-Redakteuren Wolfgang Leja und Jürgen Schmidt (von links). Foto: Achim Zweygarth

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