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Von Stempeln und Identifikation

Jule Rona Eccard gehört zu den Jahrgängen zwischen den Millennials und der Generation Z und ist auch sonst in mehreren Welten zuhause: Sie arbeitet als Online-Redakteurin beim Staatsanzeiger und studiert außerdem Rhetorik und Literaturwissenschaft in Tübingen. Davor hat sie nach ihrem Abschluss in Kommunikationswissenschaft im Marketing gearbeitet – „irgendwas mit (Online-)Medien“ ist also ihr Spezialgebiet.
Auf der Post und den Unterlagen werden sie seltener, im übertragenen Sinn zwischenmenschlich eher mehr: Stempel. Als soziales Wesen verteilt der Mensch nun einmal gerne Labels oder steckt in Schubladen. Ich lande meistens in der mit der Aufschrift „ein bisschen alternative Medienmenschen“ – passt ja auch ganz gut. Immerhin helfen die eigenen Stempel auch dabei, den eigenen Platz in der Welt zu finden, ob beruflich, politisch oder sozial.
Solche Fremdeinteilungen und die Eigenidentifikation waren und sind wichtig – bis man vor lauter Etikett den Inhalt nicht mehr sieht oder statt Brett das Stempelkissen vor dem Kopf hat. Denn die gesellschaftliche Polarisierung steigt: Wer sich mit einer Gruppe identifiziert, verschreibt sich ihr gänzlich und redet nicht mehr mit den anderen. Wer das dennoch tut, kriegt von der eigenen Gruppe eine auf den Deckel. Das kann aber nicht die Lösung sein, denn so entstehen die Filter Bubbles und Meinungsblasen aus der Online-Welt auch im echten Leben.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Gefahr dafür in einer Stadt wie Tübingen mit ihrem hohen Anteil an Studis und Links-Grün-Wählern besonders hoch ist. Umso wichtiger finde ich es, sich mit Menschen, die in einer anderen Lebensphase sind, aus einer anderen Lebensrealität kommen oder eine andere politische Ansicht haben, ab und zu an einen Tisch zu setzen. Auch wenn mein Umfeld dann nicht versteht, warum ich mit jemandem Kaffeetrinken gehe, der erzkonservativ wirkt, nicht viel mit kreativen Berufen anfangen kann und eine gänzlich andere Vorstellung von Feminismus hat. Laut dem Rhetoriker Kenneth Burke ist Identifikation sogar wichtiger als das herkömmliche Überzeugen – sowohl die eigene Zuordnung als auch die Empathie mit anderen.
Für ein demokratisches Miteinander, ob in einem Parlament oder beim Kaffee mit Bekannten, braucht es den Dialog, vielleicht sogar eine ordentliche Streitkultur. Dann schlägt man sich auch mal ein bisschen die Köpfe ein, schafft es aber am Ende im Idealfall, sich zu einigen, sich in die andere Seite hineinzuversetzen – oder die andere Meinung wenigstens als solche stehen zu lassen.