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Interview

Justizministerin Marion Gentges: „Wir müssen zeigen, dass der Rechtsstaat handlungsfähig ist“

Mehr Kriminalität, viele Asylverfahren, überlastete Kammern: Justizministerin Marion Gentges (CDU) will mit mehr Personal bei den Gerichten und den Staatsanwaltschaften die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats unterstreichen. Auch beim Opferschutz und bei der Bekämpfung von Kinderpornografie setzt sie Schwerpunkte.

Marion Gentges will beweisen, dass der Rechtsstaat funktioniert. Dafür stellt sie mitunter auch mehr Stellen zur Verfügung.

DANIELFOLTIN.COM)

Staatsanzeiger: Frau Gentges, das Sicherheitsgefühl vieler Bürger ist gestört. Wie gehen Sie mit neuen Kriminalitätsschwerpunkten um?

Marion Gentges: Ich glaube, dass der berechtigte und verständliche Wunsch nach Sicherheit im Moment in der Bevölkerung enorm hoch ist. Als Hintergründe dafür lassen sich sicher anführen: der Krieg in Europa, die internationalen politischen Hauptakteure Trump und Putin, die Rezession. In diesem Umfeld ist die Verlässlichkeit des Staats eine wichtige Erwartungshaltung. Daher gilt es, die Handlungsfähigkeit unseres Rechtsstaats unter Beweis zu stellen. Das gilt in jedem Bereich. Wenn es um Sicherheit geht, gilt dies gewiss verstärkt für das Strafrecht, aber auch für Asylverfahren.

Die Strafverfolgungsbehörden sind stark belastet, in den Augen vieler Menschen sogar überlastet. Was tun Sie dagegen?

Wir wollen die Gerichte, die Staatsanwaltschaften und die Vollzugsanstalten so ausstatten, dass sie ihren Aufgaben möglichst gut nachkommen können und damit präventiv wirken. Wir haben in den Verhandlungen zum Doppelhaushalt 2025/26 insgesamt mehr als 276 zusätzliche Stellen für Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte erwirken können, davon starke 111 bei den Staatsanwaltschaften.

In welchen Bereichen werden diese neuen Stellen eingesetzt?

Wir werden sieben neue Stellen bei den Staatsanwaltschaften einsetzen, um Straftaten nach dem Asylverfahrensgesetz zu bekämpfen. Die Menschen assoziieren mit dem Schlagwort Migration Sicherheitsbedenken. Deshalb ist wichtig, dass spezifische Straftaten, die direkt im Zusammenhang mit Asylverfahren und Migration stehen, verfolgt werden. Das stellen wir mit der Ausweitung der Kapazität durch neue Stellen sicher. Denn die Verfahrenszahlen in diesem Bereich sind erheblich angestiegen.

Was auch an den deutlich höheren Zugangszahlen liegt, oder?

Das stimmt. 2021 gab es rund 19 000 Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz, dem Asylverfahrens- und dem Freizügigkeitsgesetz. Und 2024 waren es mehr als 37 000. Das ist eine Steigerung um über 95 Prozent.

Es gibt schon seit den 1990er-Jahren das Instrument des beschleunigten Strafverfahrens. Wird es genutzt?

In der Vergangenheit wurde es vergleichsweise zurückhaltend genutzt. Vor allem, weil es mit zusätzlichem organisatorischen und personellen Aufwand verbunden ist. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften müssen dafür entsprechend besetzt sein. Wir sehen in vielen Bereichen einen Mehrwert in der zügig durchgeführten mündlichen Verhandlung gegenüber dem Strafbefehl, nicht zuletzt in Fällen, in denen junge Straftäter einem Strafrichter eins-zu-eins gegenübersitzen. Deshalb stärken wir schon seit Jahren die Staatsanwaltschaften und Gerichte, um beschleunigte Strafverfahren häufiger führen zu können. Jetzt kommen sechs Stellen dazu, das bedeutet nochmal eine signifikante Ausweitung.

Besonders im Fokus der Öffentlichkeit stehen Gewalt- und Eigentumsdelikte. Was ändert sich hier?

Es sind 38 neue Stellen für die Verfolgung von Straftaten vorgesehen, die in besonderer Weise das Sicherheitsgefühl beeinträchtigen und die Sicherheitslage prägen. Bei den Straftaten im öffentlichen Raum haben wir 2023 gegenüber 2022 einen Anstieg um sechs Prozent festgestellt, bei den Aggressionsdelikten sogar um neun Prozent. Und die Diebstahlsdelikte nahmen zuletzt insgesamt 26 Prozent der im öffentlichen Raum begangenen Straftaten ein. Mit den neuen Stellen soll die Kapazität erhöht werden, um diesen Deliktsgruppen zu begegnen. Ein weiterer Bereich, in dem wir mit deutlich mehr Personal arbeiten, ist die Bekämpfung der sexualisierten Gewalt gegen Kinder. Hier gibt es Straftaten, die in ihrer Widerwärtigkeit kaum zu überbieten sind, zum Teil zulasten sehr, sehr junger Opfer.

Wie stark wird dieser Bereich der Strafverfolgung ausgebaut?

Dafür sind 24 neue Stellen vorgesehen. Ich halte das auch deshalb für so wichtig, weil Angehörige und Eltern – das ist leider traurige Tatsache – oft zum Kreis der Täter gehören oder die Täter gewähren lassen. Wenn der Staat nicht in der Lage ist, solche Verfahren zu führen und die Kinder aus solchen unerträglichen Situationen zu befreien, macht es niemand.

Es gibt seit Februar 2024 eine EU-weite Pflicht für Onlineplattformen und digitale Dienste, rechtswidrige Inhalte zu melden. Was bewirkt das, kommt das an?

Das wird erwartbar zu einem enormen Anstieg an Meldungen führen. Es gibt Schätzungen des Bundeskriminalamts, die davon ausgehen, dass sie von derzeit 6000 auf künftig 720 000 ansteigen werden. Das ist enorm, dem muss man Rechnung tragen. Für Baden-Württemberg schätzen wir, dass das rund 56 000 Fälle mit strafrechtlicher Relevanz bedeuten könnte.

Stichwort Jugendkriminalität: Die „Häuser des Jugendrechts“ sind ein wichtiges Modell im Land. Gibt es für diese Variante zusätzliche Stellen?

Ja, zur Bekämpfung von Jugendkriminalität werden elf zusätzliche Stellen geschaffen. Das erste „Haus des Jugendrechts“ wurde vor 26 Jahren in Stuttgart-Bad Cannstatt eingerichtet. Im Grunde ist das Konzept so simpel wie überzeugend: Lasst alle, die mit diesem Verfahren zu tun haben, gemeinsam unter einem Dach arbeiten. Ich sage immer etwas flapsig: die gemeinsame Kaffeemaschine nutzen. Tatsächlich gibt es in den Häusern des Jugendrechts Fallkonferenzen, bei denen alle Experten zusammenkommen. Die Verfahren gehen schneller, die Strafe folgt der Tat wirklich auf dem Fuß. Und es setzt den Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts in besonderer Weise um.

Wie ist die Situation beim Opferschutz?

Auch hier wollen wir die Arbeit weiter intensivieren. Das hatten wir uns mit dem Koalitionsvertrag vorgenommen. Jetzt haben wir auch die Mittel dafür, um bei allen Staatsanwaltschaften Opferbeauftragte einzurichten. Sie können auch bei großen Ereignisfällen den Opferbeauftragten der Landesregierung unterstützen.

Sie meinen zum Beispiel die Todesfahrt von Mannheim…

Genau so ist es. Als ich eine Woche nach dem Ereignis mit dem Opferbeauftragten der Landesregierung gesprochen habe, hat er mir erzählt, dass bereits über 130 Personen seine Hilfe in Anspruch genommen haben. Das sind die unmittelbar von der Straftat Betroffenen, aber auch Zeugen, die das Geschehen miterlebt haben. Oder Angehörige von Opfern. Wenn so etwas Schwerwiegendes passiert, stehen wir sofort mit einem umfassenden Hilfsangebot zur Seite.

Wie sieht es bei den Asylverfahren aus? Hier sind die Gerichte in den letzten Jahren ebenfalls stark belastet gewesen …

Ja, die extrem hohen Zugangszahlen ziehen Probleme nach sich. Wir haben deshalb die Verwaltungsgerichte so ausgestattet, dass die durchschnittliche Dauer asylgerichtlicher Hauptsacheverfahren von elf Monaten 2023 auf zuletzt 7,9 Monate 2024 gesunken ist. Eilverfahren haben zuletzt im Schnitt 1,7 Monate gedauert. Außerdem konzentrieren wir landesweit inzwischen am Verwaltungsgericht Karlsruhe erfolgreich Verfahren mit Herkunftsstaaten, die eine Anerkennungsquote von unter fünf Prozent haben. Hier sind Eilverfahren in wenigen Wochen abgeschlossen.

Wie ist das gelungen?

Wir haben Zuständigkeiten konzentriert und das Verwaltungsgericht Karlsruhe ausgebaut zu einem Kompetenz- und Innovationszentrum Asyl. Dort kommen intelligente Softwarelösungen zum Einsatz, die sich bezahlt machen. So kann unser Automatischer Datenassistent innerhalb von Sekunden Akten des Bundesamtes für Migration durchsuchen, die 500 Seiten dick sind. Die Daten werden direkt in die E-Akte übertragen.

Eine politische Frage zum Abschluss: Rechtspopulistische Kräfte stellen immer offener den Rechtsstaat infrage – ist er wirklich in Gefahr?

Ich habe immer Studien im Blick, die untersuchen, wie zufrieden Menschen mit unserer Demokratie beziehungsweise damit sind, wie sie funktioniert. Je nach Studie antworten 50 bis 70 Prozent, Zweifel daran zu haben, dass die Demokratie funkti oniert. Und ich finde, wir sollten alles daran legen, diese Zweifel zu widerlegen. Und das geht eben nur, indem wir beweisen, dass die Demokratie, dass der Rechtsstaat handlungsfähig ist.

Das Gespräch führten Leonie Henes und Rafael Binkowski

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