Sport in der Stadt

Wie Menschen Brachen und Dächer nutzen

Fünf Stationen quer durch Stuttgart, die zahlreiche Aspekte aufgreifen: Die Parcours-Ausstellung „Ça bouge en ville – Bewegt euch!“ ist nicht nur ein Beitrag zum deutsch-französischen Sportsommer. Sie regt vor allem auch zum Nachdenken an über Stadt, Planung, Raum, Leben – und was dabei Sport bedeutet.

Dimitri Roussel, der Pariser Architekt und Ex-Basketballprofi , hat die Ausstellung mitkuratiert. Foto: Max Feldhoff

Stuttgart. Knie hoch und runter, Arm vor und zurück. Ein Mann in knapper Badehose macht Übungen im Garten vor einer Sprossenwand – alles in schwarz-weiß. Bei der Frau, die da in bauchfreiem Top sportelt, geht es indes farbenfroh zu. Ihre Legging ist blau gemustert, das Meer dahinter hellblau wie die Matte, auf der sie joggt. Laufende Bilder, zwischen denen 111 Jahre liegen.

Auf ersteren demonstriert der dänische Gymnastikguru Jørgen Peter Müller im Jahr 1911 sein System aus Körperertüchtigung und Freiluftkultur, auf letzteren vermittelt die französische Bloggerin Sissy Muai 2022 Fitness als Lebensweise. Andere Ästhetiken, gleiche Aussagen: Wie schon Philosoph Platon erzählen die Videos vom gesunden Geist im gesunden Körper. Sie sind in der Weissenhofwerkstatt im Haus Mies van der Rohe auf dem Stuttgarter Killesberg zu sehen. Wie auch das Werk und sportliche Leben von Le Corbusier, dessen Häuser der Stuttgarter Weissenhofsiedlung Weltkulturerbe sind. Der legendäre schweizerisch-französische Architekt schwor auf Jørgen Peter Müllers Morgengymnastik.

Die Weissenhofwerkstatt ist denn auch Ausgangspunkt der Parcours-Ausstellung „Ça bouge en ville – Bewegt euch!“ An fünf Stationen in Stuttgart – Weissenhofwerkstatt, Architekturgalerie am Weißenhof, Wechselraum des Bunds Deutscher Architektinnen und Architekten BDA, Schaufenster der Internationalen Bauaustellung IBA und Institut Français – kann auf rund fünf Kilometer die Stadt als Sportort erkundet werden. Am besten zu Fuß.

Ein Teil des deutsch-französischen Sportsommers

Die Schau will was bewegen, zum Nachdenken über Strukturen anregen. Welchen Platz nimmt Sport ein, gerade der nicht-kommerzielle in einem zunehmend kommerziellen Umfeld? Was muss sich zukünftig an urbanen Strukuren ändern ob des Sanierungsstaus vieler – über 40 Jahre alter – Sportanlagen, auch angesichts von Stadtverdichtung, geringeren Mitteln, sozialen und ökologischen Herausforderungen?

Der Parcours ist ein Beitrag zum deutsch-französischen Sportsommer. Zur Fußball-EM in Deutschland im Juni und Juli 2024 sowie den Olympischen und Paralympischen Spiele in Paris von Juli bis September kooperieren die beiden Länder nicht nur in Sachen Sicherheit. Auch gemeinsame sportliche und kulturelle Projekte gibt es, unterstützt vom Bürgerfonds. Der wurde 2019 etabliert zum Aachener Vertrag, ein neues Abkommen über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration anlässlich des 56. Jahrestags des Elysée-Vertrags.

Das Institut Français holte „Ça bouge en ville – Bewegt euch!“ in die Landeshauptstadt und fand Partner, etwa Stuttgart und das Land. Denn konzipiert wurde die Schau von der Site Le Corbusier Firminy – die Stadt liegt südwestlich von Lyon bei Saint Etienne – mit dem Pariser Architekturbüro DREAM. „Als ich die Ausstellung in Firminy sah, wusste ich gleich, die muss hierher, allerdings auf verschiedene Orte verteilt“, schildert Johanne Mazeau-Schmid, Kulturbeauftragte des Institut Français. „Bei uns geht es um künstliche Sportanlagen und virtuellen Sport.“

Lachend führt sie zu einem Heimtrainer. In dessen Pedale träten die Mitarbeiter nun fast täglich. Dank Bildschirm kann man darauf Frankreichs Berge, Ebenen und Städte erradeln, fühlt jeden Anstieg, jede Abfahrt. Mehr Ausdauer bräuchte es, um per Rad die Destinationen an der Wand anzusteuern.

Ein Foto präsentiert Copenhill, den 2017 eröffneten Kopenhagener Ski- und Freizeithügel mit der 85 Meter Kletterwand, der höchsten der Welt, auf dem Dach einer Müllverbrennungsanlage. Ein frischer Ansatz im Umgang mit städtischen Ressourcen. Einen alten Ansatz zeigt das andere Foto: der Seagaia Ocean Dome im japanischen Miyazaki. Der artifizielle Indoor-Wasserpark mit Strand à la Polynesien wurde 2017 abgebaut, er ging Pleite.

In enormem Aufschwung indes befindet sich ein neueres Phänomen: Im Treppenhaus wird hinterfragt, ob der boomende E-Sport ein Sport wie jeder andere ist. Computerspiele füllen längst enorme Wettkampfarenen, laut Ergo-Versicherung soll bis 2024 das Publikum weltweit auf über 640 Millionen Menschen steigen, der weltweite E-Sport-Markt auf 1,6 Milliarden Euro wachsen dank Dienstleistungen, Sponsoring, Werbung, Ticketing, Merchandising und Medienrechten. 2021 beim Wettkampf „The International“ spielten Gamer um Preisgelder von 40 Millionen US-Dollar. Bodenständigeres ist da auf den Treppenstufen zu lesen: französisch-deutsche Botschaften zu Sport, Körper und Geist wie „apprécier le chemin“, also „den Weg annehmen“.

Dieser treibt auch den Mitkurator der Schau an. Dimitri Roussel, Pariser Architekt, Ex-Basketballprofi und Gründer des Büros DREAM, will nachhaltig und ressourcenschonend bauen. Eine Stadt brauche kostenfreie Sportmöglichkeiten für alle, sagt er. „Ein Spiegel reicht, dass Leute davor tanzen, ein halbes Basketball-Feld, und sie spielen. Der Sportplatz passt sich dem Ort an“, so Roussel im SWR-Interview.

Beispielhaft realisierte er vier kleine Fussballplätze unter der achtspurigen Pariser Stadtautobahn. Inspirieren ließ er sich auch von Le Corbusier. Der entwarf in Roussels Geburtsstadt Firminy unter anderem nicht nur das Kulturzentrum und das Stadion. Auch auf das Dach seines ersten Wohnblocks, 1952 in Marseille erbaut, setzte er einen Sportbereich mit Swimmingpool. Nun tat es ihm Roussel nach, schuf auf seinem Holz-Hochhaus im Village des Athlètes Paris einen öffentlichen Sportplatz auf dem Dach – mit Panoramablick.

Zu sehen ist sein Entwurf für das olympische Athletendorf in der Architekturgalerie am Weißenhof. Mit anderen aktuellen Projekten und Modellen, die vom Bauen in Zeiten des Klimawandels erzählen. Darunter die „Zero Footprint“-Sporthalle der „Panyaden International School“ im thailändischen Chiang Mai. Sie wurde konstruiert mit lokalen Techniken aus heimischem Bambus nach dem Vorbild einer Lotusblüte. Faszinierend auch das Pariser Centre Aquatique: Dessen Energiebedarf soll bis zu 84 Prozent aus erneuerbaren Energien gedeckt werden.

Der Sport eignet sich Brachen in der Stadt an

Wie sich urbanes Leben und Sport auf vielen Ebenen durchdringen, wird zudem im IBA-Schaufenster deutlich, wo Studierende der Hochschule für Technik ihre Ideen präsentieren. Der Sport eignet sich Brachen an, indem Menschen verlassene Orte zum Klettern nutzen. Er bringt Generationen auf öffentlichen Plätzen zusammen, wo Alt und Jung zusammen Boccia spielen. Er fördert das „Kennenlernen“, „Mitradeln“, regt an zum „Balancieren“, „Bewundern“, ja zum „Mitfiebern“ in Kneipen, Stadien, auf Grafittis und Stickern.

Im BDA Wechselraum schließlich mutiert Stadt per se zum aufregenden Sportplatz, filmisch, fotografisch, installativ. Kein Platz und Geld? In Asien oder Südamerika ist man kreativ: Communities schaffen ihre eigenen Sportfelder auf Dach- oder Wasserflächen, da wird getanzt, da prallt der Basketball. Den Luftraum nutzt das Team „Storror“, indem es todesmutig über „Rooftops“ springt. Die Performer und Parkour-Läufer von Choreograf Willi Dorner verschränken, klemmen und stapeln sich in Türnischen, Architraven, auf Treppenabsätzen und Parkbänken als „bodies in urban spaces“. „Ça bouge en ville“ – da bewegt sich was in der Stadt.

Parcours-Ausstellung

In internationalen Kongressen für moderne Architektur der 1930er-Jahre thematisierte man den Einfluss des Sports auf die Planung des Stadtraums. Ein Beispiel für funktionalistische Stadtplanung, die neben dem Arbeitsplatz auch Raum für Freizeitaktivitäten schafft, ist in Firminy das Zentrum zur Erholung von Körper und Geist, entworfen von Le Corbusier. Der Freizeitsport heute ist im Wandel, wie die architektonische Planung in Städten. Geht das zusammen? Das fragt bis 30. Juni die Parcours-Ausstellung „Ça bouge en ville – Bewegt euch!“, gestaltet nach Ökodesign-Richtlinien.

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