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Richtige Interpretation von Warnsignalen kann Femizide verhindern
Ravensburg. Sebastiana F. ist 44 Jahre alt, als sie am 21. Januar 2023 von ihrem Mann in aller Öffentlichkeit erschossen wird. Die Mutter von zwei Kindern war wenige Monate zuvor einer Ehe mit Streit, Gewalt und Todesdrohungen entflohen, zog mit dem gemeinsamen Sohn nach Markdorf (Bodenseekreis) und fand hier Arbeit in einem Schnäppchenmarkt.
Der damals 48-jährige Familienvater ließ sich mit dem Taxi zu dem Geschäft fahren. Videos auf Überwachungskameras zeigen später, wie er, ohne zu zögern, auf seine Frau zuläuft, eine Pistole in der Hand und auf sie gerichtet. Sekunden später drückt er mindestens fünf Mal ab. Die Frau stirbt an Ort und Stelle.
„Jetzt hat sie bekommen, was sie verdient hat, die Hure“, sagte Gezim F. nach der Tat, die Richter Arno Hornstein bei der Urteilsverkündung als „kaltblütigen Mord“ qualifizierte.
Bundesweit 938 Femizide im Jahr 2023
Das Landgericht Konstanz ging während des Prozesses von einem Akt der Bestrafung aus. Der Täter sah seine Frau als seinen Besitz, wollte nicht akzeptieren, dass sie sich von ihm trennt. Er wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, die inzwischen rechtskräftig ist.
Wenn Frauen oder Mädchen durch Männer getötet werden, weil sie Frauen sind, spricht man von einem Femizid. Ist das Opfer der eigene Intimpartner, ist es ein Intimizid. Ein aktueller Lagebericht des Bundesinnenministeriums stellt fest, das im Jahr 2023 exakt 938 Mal ein Femizid registriert wurde. In 80 Prozent der Fälle hatte der Mann seine (frühere) Partnerin getötet oder versucht, sie zu töten – ein Intimizid also. 360 Frauen und Mädchen starben, statistisch also jeden Tag eine. Sebastiana F. war eines der Opfer.
„Der eigene Partner ist in der Trennungsphase oft der gefährlichste Mensch“, weiß Uwe Stürmer, seit 2020 Präsident des Polizeipräsidiums Ravensburg . Wie oft er in seinem Berufsleben mit Intimiziden zu tun hatte, kann er nicht zählen. Nach 15 Jahren Kripo-Arbeit leitete er von 1999 bis 2001 die Mordkommission in Stuttgart. So weit zurück muss er gar nicht schauen. Allein im Zuständigkeitsbereich seines Polizeipräsidiums gab es von 2018 bis 2021 insgesamt 39 versuchte und vollendete Fälle von Mord oder Totschlag an Frauen. Bei 20 davon kannten sich Täter und Opfer.
Für den Polizeichef ist es seit Jahren ein Herzensanliegen, genauer hinzuschauen, wenn es in einer Beziehung zu Gewalt kommt. Gab es Warnzeichen, bevor die Partnerin getötet wurde? Aus seiner Erfahrung heraus sind Beziehungstaten in den meisten Fällen eben nicht spontan. Doch woran erkennt man die reale Gefahr? Dieser Frage wollte Uwe Stürmer mit wissenschaftlicher Unterstützung nachspüren und koordinierte ein bundesweites, mit 1,1 Millionen Euro gefördertes Forschungsprojekt: die „Polizeiliche Gefährdungsanalysen zu Tötungsdelikten in Partnerschaft und Familie“, kurz Gate. Nun liegen die Ergebnisse vor.
Polizei und Psychologen auf der Suche nach den „roten Flaggen“
Zweieinhalb Jahre lang forschte das Team der Psychologischen Hochschule Berlin, der Deutschen Hochschule der Polizei und des Polizeipräsidium Ravensburg mit Uwe Stürmer an der Spitze. Sie wälzten sich nicht nur durch die Ermittlungsakten von Tötungsdelikten, sondern untersuchten auch Fälle, bei denen es bei einer Morddrohung blieb. Immer auf der Suche nach den sogenannten „roten Flaggen“, also Warnsignalen, die es ermöglichen, einen Femizid zu erkennen und so zu verhindern. Dazu gehört das sogenannte Leaking, also wenn eine Tat im Vorfeld angekündigt wird.
Dabei wurden drei Fallkonstellationen untersucht und letztlich verglichen. Im ersten kommt es zur Tötung der Partnerin, ohne dass Polizei und Behörden zuvor Kenntnis von Beziehungsproblemen hatten. Im zweiten Fall eskaliert die Situation bei einem Paar, bei dem die Polizei wegen häuslicher Gewalt schon im Einsatz war. Der dritte Fall ist quasi ein Mord mit Ansage, also nach einer Drohung, die aber nicht ernst genommen wurde. So wie im Fall von Sebastiana F.
Dass sich Intimizide selten spontan ereignen, bestätigen die Untersuchungen. Aber nicht allen untersuchten Fällen ging eine Gewaltvorgeschichte voraus. Die Tat auslösen könnten auch Ereignisse, die den bisherigen Lebensentwurf des Täters bedrohen, ihn in eine Krise stürzen, erklärt Psychologin Rebecca Bondü von der Psychologischen Hochschule Berlin, die das Projekt wissenschaftlich begleitet hat. Bislang stützt sich Polizeiarbeit jedoch vor allem auf die Gewaltvorgeschichte und statistische Risikofaktoren. Bei diesem Vorgehen werde das Tötungsrisiko in vielen Fällen unterschätzt.
Ob mit oder ohne Gewalt in der Beziehung: Im Fall der Eskalation wurde in vielen die Tat angekündigt. Vor Intimiziden trat Leaking vor allem in Form von Drohungen gegenüber dem Opfer oder Dritten auf. Andere Warnsignale sind suizidales Verhalten oder schwere Gewalt gegen die Partnerin.
Die Forschungsgruppe hat anhand der Ergebnisse 14 wissenschaftlich gesicherte Kriterien herausgearbeitet. „Wenn die vorliegen, besteht ein erhöhtes Risiko für einen Intimizid“, sagt Thomas Görgen, Professor an der Deutschen Hochschule der Polizei. Diese Kriterien fließen in „GaTe-RAI“, ein neues Instrument für die Risikoanalyse. Nach Aussage von Rebecca Bondü könne so gut unterschieden werden, ob ein potenzieller Täter die Tat nur androht oder die Gefahr groß ist, dass er sie umsetzt.
Hilfestellung für Jugendämter, Frauenhäuser und Kliniken
GaTe-Rai soll aber nicht nur der Polizei nutzen, sondern auch Mitarbeitern in Jugendämtern, Frauenhäusern oder in Kliniken. „Nur in knapp 25 Prozent der analysierten Tötungsdelikte kam es zuvor zu einem Polizeieinsatz und nur 17 Prozent der Leakings in der vorliegenden Stichprobe wurden den Strafverfolgungsbehörden gemeldet“, erklärt Uwe Stürmer, dass auch solche Zeugen für die Warnsignale eines Intimizids sensibilisiert werden müssen. Ein Flyer mit entsprechenden Informationen liegt bereits vor. Schulungen bietet die Psychologische Hochschule Berlin an.
Allerdings muss der Schutz der Opfer professionalisiert werden, auch in der Ausbildung von Polizeibeamten. Aktuell gibt es zudem keine bundesweit einheitlichen Standards für die Gefährdungsanalyse. Nach einer Befragung vieler Polizeibeamter, die mit Intimiziden befasst sind, zeigen die Studiendaten, dass das Vorgehen weder deutschlandweit noch innerhalb der Bundesländer abgestimmt ist. Teilweise gebe es Diskrepanzen zwischen den Vorgaben der Ministerien und der polizeilichen Praxis. Auch das Fortbildungsangebot sei nicht angemessen abgedeckt. Die Zusammenarbeit beispielsweise mit Jugendämtern oder nicht staatlichen Hilfseinrichtungen gestalte sich bundesweit sehr unterschiedlich.
Abhilfe soll ein Schulungskonzept schaffen, dass die Projektpartner gleich mitentwickelt und auch schon erprobt haben. Die Schulung wurde an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg als auch an der Deutschen Hochschule der Polizei in Berlin bereits durchgeführt.
Hätte der Mord an Sebastiana F. verhindert werden können? In ihrem Fall waren alle Warnsignale vorhanden. „Wir hatten Angst vor ihm“, erzählte die erwachsene Tochter des Opfers nach der Tat. Nicht nur, dass der Mann bereits in der Beziehung gewalttätig war. Er habe zuvor mehrfach gedroht, der Mutter etwas anzutun, wenn sie nicht zu ihm zurückkehrt.
Die häufigsten Zeugen von Leaking sind das Opfer selbst, Freunde, Familie und Kinder, bestätigt Uwe Stürmer. Allein die Angst des Opfers müsse dazu führen, diese ernst zu nehmen und die Institutionen einzuschalten, sagt der Polizeichef.
Fast jeden Tag ein Femizid
Im November 2024 legte die Bundesregierung das erste Lagebild „Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten“ vor. Zum ersten Mal wurden darin Zahlen aus unterschiedlichen Datenquellen zusammengetragen, die umfassend darstellen, dass Frauen und Mädchen in vielerlei Hinsicht Opfer von Straftaten und Gewalt werden, weil sie Frauen und Mädchen sind. Das Lagebild sammelte Daten zu Gewalttaten ebenso wie zu frauenfeindlichen Straftaten als Teil der politisch motivierten Kriminalität sowie Straftaten, die generell überwiegend zum Nachteil von Frauen begangen werden. In allen diesen Bereichen sind die Zahlen 2023 im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Demnach gab es 2023 beinahe jeden Tag einen Femizid in Deutschland.