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Wildunfälle

Tod im Straßenverkehr: Mensch und Tier auf Kollisionskurs

Jäger Wilhelm Seitz ist auch Wildtierschützer. Er wird gerufen, wenn Fahrer einen Wildunfall melden. In der Region Bodensee-Oberschwaben geschieht das erschreckend oft. 2023 ist fast jeder fünfte Unfall beim Wildwechsel über die Straße passiert. Auto und Tier kollidieren immer öfter.

Wilhelm Seitz ist seit nun bald 30 Jahren Jäger und beim Landratsamt eingetragener Wildtierschützer. Mindestens 20 Mal pro Jahr wird er gerufen, weil es in seinem Bereich zu einem Wildtierunfall gekommen ist.

Katy Cuko)

Friedrichshafen. Wilhelm Seitz zeigt auf sein Handy. 45 rote Markierungen weist der kleine Abschnitt im Tierfund-Kataster aus. Hier tragen bundesweit nicht nur Jäger den genauen Standort eines Wildunfalls ein. 45 rote Punkte stehen für 45 Kollisionen binnen zwei Jahren zwischen Auto und Tier nur an zwei Kreisstraßen in Friedrichshafen. Hinter Messegelände und Flughafen kracht es sehr oft. Meistens endet das tödlich für das Tier.

Es ist der Albtraum jedes Autofahrers: Es ist dunkel, plötzlich funkeln Augen auf, dann ein Knall. Wilhelm Seitz ist seit nun bald 30 Jahren Jäger und beim Landratsamt eingetragener Wildtierschützer. Wenn im Revier seiner Jagdgesellschaft ein Wildunfall passiert, wird er von der Polizei benachrichtigt und fährt vor Ort, egal zu welcher Tages- und Nachtzeit. Beim letzten Mal vor gut einer Woche war es zwei Minuten nach Mitternacht, erzählt er. Mindestens 20 Mal pro Jahr wird er gerufen.

Meistens sind es Rehe, kaum Wildschweine, die ins Auto gelaufen sind. Liegt das Wild tot am Straßenrand, nimmt er das Tier mit und entsorgt es. „Wild ist grundsätzlich herrenlos und darf auch tot nicht einfach mitgenommen werden. Das wäre Wilderei“, erklärt Wilhelm Seitz. Nur der Jäger hat in seinem Revier das sogenannte Aneignungsrecht.

Oft genug aber springt das Reh mit seinem Fluchtinstinkt und voller Adrenalin noch davon, „selbst wenn die Läufe gebrochen sind oder es schwer verletzt ist“. Dann sucht der Jäger umgehend mit seinem Hund nach dem Reh und erlöst es. „Das ist gelebter Tierschutz“, sagt er über seinen ehrenamtlichen Nebenjob als Jäger.

Die Zahl der Wildunfälle steigt von Jahr zu Jahr

Von Jahr zu Jahr gibt es mehr Wildunfälle. Das zeigt auch die Statistik für das Jahr 2023. Da gab es 805 Wildunfälle im Bodenseekreis. Damit waren bei zwölf Prozent aller polizeilich registrierten Unfälle im Landkreis Wildtiere beteiligt. Betrachtet man den gesamten Bereich des Polizeipräsidiums, zu dem auch die Landkreise Ravensburg und Sigmaringen gehören, machen insgesamt 3396 Wildunfälle sogar einen Anteil von 18,4 Prozent am gesamten Unfallgeschehen im vergangenen Jahr aus.

Das heißt: Fast jeder fünfte Unfall passierte beim Wildwechsel. Nach Angaben der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt ( FVA ) Baden-Württemberg verzeichnen die Landkreise Ravensburg und Sigmaringen die höchste Zahl an Wildunfällen im Land, der Bodensee rangiert auf Platz acht. Vor allem Reh-, Rot- und Damwild kommen hier oft unter die Räder (siehe Kasten)

Durchschnittlich alle 90 bis 120 Sekunden wird in Deutschland ein größeres Säugetier durch den Straßenverkehr getötet, so die FVA . Kein Wunder: In den letzten vier Jahrzehnten hat sich das Verkehrsvorkommen verdreifacht. Es gebe heute fünfmal so viele Wildunfälle auf Deutschlands Straßen, verweist der Deutsche Jagdverband auf regelmäßige Erhebungen.

Das sind jährlich ungefähr 250 000 Unfälle mit Reh, Hirsch und Wildschwein. Die Dunkelziffer sei jedoch fünfmal so hoch. Wobei eben nicht nur Tiere zu Schaden kommen, sondern auch Menschen. Jährlich sind etwa 3000 Verkehrsteilnehmer betroffen. Laut FVA sterben jedes Jahr rund zehn Personen durch Wildunfälle und 2000 bis 3000 Personen werden leicht bis schwer verletzt. Hinzu kommen Sachschäden in Höhe von einer dreiviertel Milliarde Euro pro Jahr.

Doch warum kracht es an manchen Stellen so oft? Wilhelm Seitz zeigt einen Abschnitt am sogenannten Buchhölzle an der Messestraße in Friedrichshafen. Die Autos rauschen in hohem Tempo vorbei. Besonders wenn Messen stattfinden, ist rund um das Gelände zwischen Flughafen und Messe noch mehr Verkehr.

Viel Platz hat das Rehwild nicht. Wird es dann beispielsweise von nicht angeleinten Hunden aufgeschreckt, die durch das Unterholz streunen, sei der Weg zur Straße nicht weit.

Rehe sind Opfer Nummer eins bei Wildunfällen

Rehe sind auch im Revier der Jagdvereinigung Kehlen östlich von Friedrichshafen, das rund 1300 Hektar umfasst, Opfer Nummer eins bei Wildunfällen. Die passieren meistens im April und Mai, weiß Wilhelm Seitz aus Erfahrung, vor allem in den frühen Morgenstunden. „Kurz nach der Zeitumstellung ist besondere Vorsicht nötig“, sagt der Jäger aus Erfahrung. Rehe sind Gewohnheitstiere, die immer zur selben Zeit dahin gehen, wo Ruhe ist.

Ausgerechnet dann sind viele Muttertiere noch mit ihren beiden Kitzen aus dem Vorjahr unterwegs, tragen aber schon den neuen Nachwuchs aus. Bevor der zur Welt kommt, vertreibt die Geiß ihre einjährigen Kitze. „Die springen fort und es knallt“, erläutert Wilhelm Seitz eine dieser Situationen, die im späten Frühjahr für viele Wildunfälle sorgen. Denn Straßen kreuzen und zerschneiden die Lebensräume des Wildes.

Wildwechsel über Straßen wird oft zur Todesfalle

Das zweite kritische Zeitfenster ist im Juli und August, wenn beim Rehwild Paarungszeit ist. Und auch im Herbst, wenn die großen Maisfelder nahe den Straßen abgeerntet sind und es wieder „eng in der Natur“ wird, so Wilhelm Seitz, wird der Wildwechsel über Straßen oft zur Todesfalle für die Tiere. Vor allem dann, wenn eine Straße über Hunderte Meter fast kerzengerade verläuft und so zum Rasen oder Überholen einlädt.

Wie oft er tote Tiere schon beim „Volloch“ oder bei der Bachbrücke an der Kreuzlinger Straße nach Kehlen wegräumen musste, kann der Jäger kaum mehr zählen. „Das ist eine der gefährlichsten Strecken im ganzen Bodenseekreis“, sagt er. Warum hier die Warnschilder weggeräumt wurden, kann er nicht nachvollziehen.

In zwei Modellregionen wird die Wildunfallprävention getestet

Der Bodenseekreis gehört neben dem Enzkreis zu den beiden Modellregionen, in denen das Land bis zum Jahr 2025 verschiedenen Maßnahmen der Wildunfallprävention testet. Dazu gehören Querungshilfen, Wildwarnanlagen, Wildschutzzäune und die blauen Wildwarnreflektoren, die an Leitpfosten am Straßenrand angebracht sind.

Regie in diesem Prozess führt seit Oktober 2020 der ministerielle Arbeitskreis „Verkehrssicherheit & Wildtiere“, zu dem auch der Landesjagdverband und das FVA-Wildtierinstitut gehören. Nach der Auswertung soll ein Fachkonzept erstellt werden, das Richtschnur auch für andere Landkreise sein könnte.

Wilhelm Seitz’s Ratschläge lernt man schon in der Fahrschule. Autofahrer sollten vor allem in Wäldern langsamer und achtsam fahren. Bei Tempo 60 ist der Bremsweg etwa 35 Meter, bei Tempo 100 bereits mehr als doppelt so lang. Sieht man dann Wild am Straßenrand, „Fuß vom Gas, bremsen und in der Spur bleiben, ohne riskant auszuweichen“, sagt er. Und sich darauf gefasst machen, dass dem einen Tier noch weitere folgen könnten.

Wildunfallkarte Baden-Württemberg

Die Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg mit Sitz in Freiburg bietet auf ihrer Internetseite eine interaktive Wildunfallkarte .

Ersichtlich sind darauf unter anderem Straßenabschnitte mit einer erhöhten Gefahr für Wildunfälle, Unfalldaten zu einzelnen Tierarten sowie Wildunfallstecken, also Bereiche, in denen sich über mehrere Jahre an derselben Stelle immer wieder Unfälle ereignen.

Die Karte liefert darüber hinaus auch Informationen und Zahlen zu den einzelnen Stadt- und Landkreisen in Baden-Württemberg sowie den Generalwildwegeplan.

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