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Tarifverhandlungen: Die Spannung vor der letzten Runde steigt

Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will: Verdi wirft vor der dritten Verhandlungsrunde in der kommenden Woche in Potsdam alles in die Waagschale. Am Montag werden deutschlandweit Tausende Busse, Bahnen und Flüge ausfallen. Seit Wochen folgt Warnstreik auf Warnstreik. All dies könnte nur ein Vorgeschmack sein für das, was folgt, falls es zu keiner Einigung kommt. Und die kommunalen Arbeitgeber? Sie versuchen, mit heiler Haut herauszukommen und haben schon ein Angebot gemacht.

In Tübingen demonstrierten am Dienstag laut Verdi rund 1800 Beschäftigte. Gut 30.000 waren es in dieser Woche landesweit.

Andreas Henke)

Staatsanzeiger: Frau Binder, die Arbeitgeber haben in der zweiten Verhandlungsrunde fünf Prozent mehr Geld und einmalig 2500 Euro steuerfrei geboten. War das wirklich „ein Schlag ins Gesicht der Beschäftigten“, wie es der Verdi-Bundesvorsitzende Frank Werneke kommentierte?

Hanna Binder: Ja, das habe ich genauso empfunden. Sie müssen bedenken, dass sich das auf 27 Monate bezieht und dass die erste wirkliche Lohnerhöhung im Oktober kommen soll. Dann kann man auch nicht mehr ernsthaft von fünf Prozent sprechen.

Verdi-Landesvorsitzende Hanna Binder

Hanna Binder ist seit 2016 Verdi-Landesvize. Vor einer Woche wurde sie zum zweiten Mal wiedergewählt: mit 84 Prozent.

Foto: Hemme

Verdi scheint ja in diesem Jahr zu allem entschlossen zu sein. Was machen Sie eigentlich, wenn die Arbeitgeber ihr Angebot nächste Woche deutlich erhöhen? Ist ein unbefristeter Streik nicht längst beschlossene Sache?

Binder: Nein. Das kommt sehr wohl darauf an, was die Arbeitgeber nächste Woche bieten. Das wird entscheidenden Einfluss darauf haben, wie die Verhandlungen in Potsdam verlaufen und was danach gegebenenfalls passiert.

Etwas Besseres als eine Urabstimmung kann Ihnen doch gar nicht passieren. Schon jetzt hat Verdi 65 000 Mitglieder gewonnen. Am Ende sind es vielleicht 100 000.

Binder: Unser Ziel ist ein gutes Tarifergebnis. Dass wir in dieser Runde so viele neue Mitglieder gewinnen, zeigt, dass die Beschäftigten hinter ihren Forderungen stehen und bereit sind, sich gemeinsam dafür einzusetzen.

Frau Donath, die Gewerkschaften bauen auf allen Ebenen Druck auf. Fühlen sich die kommunalen Arbeitgeber in die Ecke gedrängt?

Sylvana Donath: Nein, wir fühlen uns nicht in die Ecke gedrängt. Wir haben aber die Botschaft verstanden und in der zweiten Runde ein Angebot gemacht. Wir haben vor, die Tarifverhandlungen in der dritten Runde zum Abschluss zu bringen.

Sylvia Donath, Hauptgeschäftsführerin des Kommunalen Arbeitgeberverbands Baden-Württemberg.

Sylvana Donath ist seit 1. Dezember Hauptgeschäftsführerin des Kommunalen Arbeitgeberverbands Baden-Württemberg.

Foto: Hemme

Am kommenden Montag wollen Verdi und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft deutschlandweit den Nah- und Fernverkehr lahmlegen. Haben Sie für solche Aktionen noch Verständnis?

Donath: Es ist nun mal so, dass wir ein Streikrecht haben. Das muss man aushalten als Arbeitgeber. Allerdings haben wir ein Problem, was die Verhältnismäßigkeit anlangt. Wir befinden uns zwischen der zweiten und der dritten Verhandlungsrunde. Wir halten die Streiks für unverhältnismäßig, weil noch nicht alle Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden.

Die Mittelstandsunion schlägt vor, das Streikrecht einzuschränken, wo es um die Daseinsvorsorge, also etwa Strom und Wasser, geht. Haben Sie auch schon einmal über so etwas nachgedacht?

Donath: Ich kann nachvollziehen, dass man sich dazu Gedanken macht, allerdings spielt auch hier die Frage der Verhältnismäßigkeit eine Rolle. Sprich: Wie lange dauern Streiks? In welchem Umfang finden sie statt? Wie wirken sie aufeinander? Ich halte das jedoch für einen sensiblen Bereich, weil das Streikrecht im Grundgesetz verankert ist.

Warum sperren Sie sich eigentlich gegen einen Inflationsausgleich?

Donath: Wir sperren uns nicht, wir verstehen die Sache nur etwas anders. Für uns besteht der Inflationsausgleich in der steuerfreien Prämie. Außerdem sind wir als Arbeitgeber nicht dafür da, die Inflation zu 100 Prozent auszugleichen, erst recht nicht die Inflationsspitzen. Wir erwarten, dass die Inflation mittelfristig wieder sinkt. Dafür bedarf es Maßnahmen, die nicht dauerhaft wirken.

Was haben Sie gegen die Verdi-Forderung nach 500 Euro mehr für jede und jeden?

Donath: Uns fällt es sehr schwer, mit einem Mindesterhöhungsbetrag zu arbeiten, da wir schon jetzt Verwerfungen der Gehaltstabelle sehen. Wir haben ja das Problem, dass so die unteren Lohngruppen überproportional steigen würden – bis zu 24,8 Prozent. Das führt dazu, dass die Abstände zwischen den Lohngruppen nivelliert werden und dass sich eine höherwertige Tätigkeit nicht mehr im gleichen Maße lohnt. Das heißt, dass wir Führungspositionen noch schwerer besetzen können. Das ist der Grund, warum wir gesagt haben: Wir bieten 2500 Euro steuerfrei und eine prozentuale Steigerung: drei Prozent ab Oktober, zwei weitere Prozent im Juni 2024. Aber keinen Mindestbetrag.

Streik Verdi

Am Dienstag legten etliche Arbeitnehmer ihre Arbeit nieder.

Foto: Andreas Henke

Es ist nicht das erste Mal, dass Verdi mit einer Forderung nach einem Mindestbetrag für alle in Tarifverhandlungen geht. Wollen Sie dem öffentlichen Dienst den Leistungsgedanken austreiben?

Binder: Der Leistungsgedanke wird nicht dadurch gefährdet, dass Beschäftigte mit niedrigeren Einkommen von ihrem Gehalt leben können. Aber wir fordern ja auch 10,5 Prozent für alle, also auch für die höheren Einkommen. Das wäre auch für die oberen Gruppen ein echter Anreiz. Nur ich denke: Man muss sich gerade die unteren Entgeltgruppen mal angucken. In anderen Niedriglohnbranchen sind – auch vor dem Hintergrund des erhöhten Mindestlohns – die Löhne 2022 um 16, 18 oder 20 Prozent gestiegen. Das brauchen wir auch im öffentlichen Dienst.

Ihr Adressat sind die kommunalen Arbeitgeber. Aber die können doch nichts dafür, wenn die Preise steigen, weil auf dieser Welt eine Krise die andere jagt. Können Sie von den Kommunen verlangen, auszubügeln, was andere verbockt haben?

Binder: Die besondere Situation im öffentlichen Dienst besteht ja gerade darin, dass Staat und Arbeitgeber teilweise deckungsgleich sind. Deshalb haben wir uns auch dafür eingesetzt, dass die Entlastungspakete kamen. Deswegen kann sich der Staat als Arbeitgeber aber nicht aus seiner Verantwortung zurückziehen. Jeder muss von seinem Lohn leben können. Das ist im Moment leider nicht so: Viele haben noch Nebenjobs, müssen Überstunden machen oder beziehen ergänzende, unterstützende Leistungen von derselben Kommune, für die sie arbeiten.

Sie bestreiken auch Kitas, obwohl dort die Verdienste seit 2009 um sage und schreibe 66 Prozent gestiegen sind. Bringen höhere Gehälter überhaupt etwas, wenn es um die Lösung des Fachkräftemangels geht?

Binder: 66 Prozent klingen nach wahnsinnig viel. Ich denke aber, diese Aufwertung war überfällig, weil die Arbeit hochqualifiziert und enorm wichtig für unsere Gesellschaft ist. Und es hat das Berufsfeld nicht unattraktiver gemacht. Allerdings wurde zu wenig ausgebildet. Gespart wurde insbesondere bei der praxisintegrierten Ausbildung zum Erzieher, die ein Ausbildungsgehalt umfasst. Dabei kann man den Kommunen weniger einen Vorwurf machen als den Kirchen und den freien Trägern. Doch es hat eben nicht gereicht. Jetzt müssen wir versuchen, die Beschäftigten zumindest zu halten. Da kann ein gutes Gehalt ein gutes Bleibeargument sein. Aber noch wichtiger ist, dass wir die Bedingungen in den Kitas so gestalten, dass sich die Beschäftigten nicht ständig überfordert fühlen.

Ein Bleibeargument könnte auch darin bestehen, dass öffentlich Beschäftigte sich die Lebenshaltungskosten einer Großstadt leisten können. Was halten Sie von einer Ballungsraumzulage?

Binder: Das könnte in der Tat – etwa in einer Stadt wie Stuttgart – ein Bleibeargument sein. Zumal die Menschen dann nicht mehr einpendeln müssten, um Geld zu sparen, was ja auch sehr viel Zeit kostet.

Wie finden Sie die Idee?

Donath: Wir sehen die Vorteile, aber auch die Gefahren. Es kann nicht unser Ziel sein, dass sich Kommunen untereinander Konkurrenz machen und dass Zulagen genutzt werden, um Personal aus anderen Verwaltungen abzuziehen. Das muss mit Augenmaß diskutiert werden. Andererseits wäre auch einiges gewonnen, wenn Menschen bereit sind, in Großstädte zu ziehen, wo die Lebenshaltungskosten höher sind. Die Diskussion ist noch nicht abgeschlossen.

Gewerkschaften und Arbeitgeber streiten auch über ein Thema, über das jahrzehntelang Konsens zu bestehen schien: die vergleichsweise langen Laufzeiten der Tarifverträge im öffentlichen Dienst.

Binder: So ganz stimmt das ja nicht. Wir haben immer zwölf Monate gefordert. Und wir fordern sie diesmal, weil wir dann in einem Jahr schauen können: Wie haben sich die Preise entwickelt? Das bringt eine höhere Flexibilität. Ich weiß wohl, dass das die Arbeitgeber nicht wollen.

Donath: Uns geht es um Planungssicherheit. Wir haben viele Kommunen, die mit einem Doppelhaushalt arbeiten und Investitionsentscheidungen treffen müssen. Da wäre es schon schwierig, wenn man nicht weiß, was im nächsten Jahr an Personalkostensteigerungen auf einen zukommt. Deswegen ist eine lange Laufzeit so wichtig.

Streit um 500 Euro für alle

Am Montag beginnt die dritte und vorerst letzte Runde der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. Die Arbeitgeber haben in der zweiten Runde ein Angebot gemacht, das die Gewerkschaften – Verdi und Beamtenbund verhandeln gemeinsam – abgelehnt haben.

Sollte es bis Mittwochabend oder Donnerstagfrüh nicht zu einer Einigung kommen, ist eine Schlichtung denkbar, aber auch ein unbefristeter Streik. Hauptstreitpunkt ist der von Verdi geforderte Mindestbetrag von 500 Euro, der zu einer deutlichen Steigerung der niedrigen Löhne führen würde – bis zu 24,8 Prozent. Die Arbeitgeber befürchten eine Nivellierung des Gehaltsgefüges und noch mehr Probleme, Fachkräfte zu finden und Führungspositionen zu besetzen.

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