„Wenn das klappt, wüsste ich nicht, was ich im Leben verpasst habe“
Pforzheim. Wir müssen uns, um mit Albert Camus zu sprechen, Hans-Ulrich Rülke wohl als einen glücklichen Menschen vorstellen, auch wenn das bisweilen schwerfällt. Eben ist er den Pforzheimer Wallberg hochgehetzt, dann steht er schon auf dem Aussichtspunkt und wird ungeduldig. Er mache ja alles mit, lässt er einen wissen, nur entscheiden möge man sich bitte, ob er nun mit der Stadt im Rücken oder in entgegengesetzter Richtung posieren solle.
Hier ist er also, der Lieblingsort des Fraktionsvorsitzenden der Liberalen im Landtag von Baden-Württemberg. Es ist zugig hier, aber auch beeindruckend. Das liegt zum einen am 360-Grad-Panorama-Blick. Man weiß nicht, wohin man als erstes schauen soll: in Richtung Schwarzwald, der in Pforzheim beginnt, auf die Stadt, die von hier aus betrachtet viel schöner aussieht, als man ahnte. Oder auf die auf Wälder und Wiesen im Norden und Westen.
Der andere Grund, der den Wallberg so besonders macht, ist seine Geschichte, von der fünf glänzende Stelen und eine in Stein eingelassene Platte erzählen. Was man dort lesen kann, macht auch 79 Jahre danach betroffen. Rund 20 Minuten dauerte der Bombenhagel der Royal Air Force, der am 23. Februar 1945 die Stadt in Schutt und Asche legte. Mehr als 18 000 Menschen fanden den Tod. Bis heute sieht man der Innenstadt ihr Schicksal an. Auch weil man den 1950er-Jahre andere Sorgen hatte, als historische Zentren originalgetreu wieder aufzubauen.
1,65 Millionen Kubikmeter Schutt landeten hier oben und ließ den Wallberg um nahezu 40 Meter wachsen – von 378 auf 417,5 Meter. Einen neuen Namen bekam der Wallberg auch: Im Volksmund heißt er seither „Monte Scherbelino“.
Hans-Ulrich Rülke war noch nicht auf der Welt, als die Stadt brannte und der Berg wuchs, aber er hat sich das Drama, das sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, oft erzählen lassen. Er selber wurde 1961 in Tuttlingen geboren und wuchs in Singen auf. Nach Pforzheim verschlug es ihn beruflich: Er fand hier seine erste Lehrerstelle.
„Die Stadt hat mir Glück gebracht“, sagt er und zählt auf: der Job, der ihm Spaß macht, die Frau fürs Leben, der politische Erfolg. Wäre es dabei geblieben, wäre der Vergleich mit dem auf Ewigkeit verdammten Sisyphos trotz seiner Liebe zum Wallberg ziemlich weit hergeholt.
Er machte sich bundesweit einen Namen: als Merkel-Kritiker
Doch Rülke verdiente sich nicht nur als Deutsch-, Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer und als Kommunalpolitiker seine Meriten. Er machte sich auch über die Stadt hinaus einen Namen; erst in der FDP, deren Landesvorstand er seit 2001 angehört, dann in der Landespolitik – seit 2006 als Abgeordneter, seit 2009 als Fraktionsvorsitzender.
Damals schien vieles möglich, zumal Rülke gut mit Stefan Mappus konnte, dem nach oben strebenden CDU-Fraktionsvorsitzenden. Die beiden kannten sich aus Pforzheim. Als der 2010 tatsächlich Ministerpräsident wurde, erwarteten viele, dass Rülke in die Landesregierung eintritt. Stattdessen blieb er Fraktionschef, was vermutlich sein Glück war – schließlich sind alle, die damals im Kabinett waren, längst von der politischen Bildfläche verschwunden.
Rülke dagegen machte sich als „Brüllke“ einen Namen, als die nach außen am stärksten vernehmbare Stimme der Opposition. Dort verblieb er auch noch, als die CDU 2016 als Juniorpartner wieder in die Regierung trat. 13 Jahre führt er nun die aktuell zweitkleinste Landtagsfraktion.
Gleichzeitig begann man, auch im Rest der Republik auf ihn aufmerksam zu werden. Rülke profilierte sich als Kritiker von Angela Merkel und ihrer Migrationspolitik, die er für die AfD-Erfolge in Pforzheim mitverantwortlich macht. Jedes Jahr hatte er seinen Auftritt beim Dreikönigstreffen der Liberalen in der Stuttgarter Oper – neben Parteigrößen wie Philipp Rösler und Christian Lindner. 2013 verlor er die Wahl zum FDP-Landesvorsitzenden gegen Michael Theurer. Demnächst könnte ihm dieser Karrieresprung noch gelingen. Theurer wechselt zur Bundesbank und viele sehen Rülke als seinen geborenen Nachfolger. Ob er wirklich nachfolgen will, will Rülke erst sagen, wenn das Verfahren bei der Bundesbank abgeschlossen ist.
Dann hätte sich seine Sisyphos-Arbeit zumindest ein Stück weit gelohnt. Doch um den Felsbrocken auf den Berg zu schleifen, was Sisyphos bekanntlich nie gelang, muss noch ein anderer Wunsch wahrwerden. Der FDP-Fraktionsvorsitzende hätte nichts so gern wie eine bürgerliche Koalition unter Ausschluss der Grünen. Das könnte eine „Deutschlandkoalition“ sein, also eine Verbindung aus CDU, SPD und FDP. Oder Schwarz-Gelb, wofür es aber derzeit laut Umfragen keine Mehrheit gibt.
Schwarz-Rot-Gelb wäre ja schon 2016 möglich gewesen. Der CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf hatte noch in der Wahlnacht darüber nachgedacht, sich zum Chef einer Koalition der Verlierer aufschwingen. Seither hält Rülke die Debatte am Köcheln – mit dem Hinweis darauf, dass die drei Parteien im Landtag eine Mehrheit hätten, wenn sie nur zusammenfänden.
Michael Theurer hatte vor Jahren einmal kurz mit den Grünen geflirtet. Rülke käme wohl nie auf diese Idee. Dagegen hat er sein Verhältnis zum CDU-Partei- und -Fraktionschef Manuel Hagel repariert, das gelitten hatte, weil Rülke bisweilen seine Zunge nicht im Zaum halten kann. Das Verhältnis zum SPD-Fraktionschef Andreas Stoch stimmt ohnehin: Acht gemeinsame Oppositionsjahre verbinden.
Die Zeichen stehen also gut, dass es diesmal klappen könnte. Zumal die FDP ja schon einen Spitzenkandidaten für die Landtagswahl gekürt hat, Rülke natürlich, der findet dass sich die Partei über die Ergebnisse, die er bislang als Spitzenkandidat erzielte, nicht beschweren kann. Und dies vor den Grünen und der Antwort auf die Frage, die alle in der Landespolitik bewegt: Kommt Cem Özdemir oder kommt er nicht?
Für den Moment bleibt Rülke freilich nichts anderes, als unverdrossen Oppositionsarbeit zu machen und von der Seitenlinie zu kommentieren, wenn in der Landespolitik wieder einmal nichts oder zumindest nichts in die richtige Richtung geht, etwa beim Thema Förderprogramme, wo er die größten Sparpotenziale sieht.
Ein bisschen Neid meint man schon herauszuhören, wenn Rülke in einem Interview bekennt, dass es in der FDP nur einen Job gebe, der interessanter sei als seiner – und dass der von Christian Lindner gut besetzt sei. Doch er habe ein anderes Ziel: die FDP 2026 in Baden-Württemberg in die Regierungsverantwortung zu führen. „Und wenn wir das schaffen, dann wüsste ich nicht, was ich im Leben verpasst haben sollte.“
Mit Stefan Mappus ist Rülke immer noch befreundet
Damals, zu Mappus‘ Zeiten, klang das noch forscher. Da hatte Rülke schon Ministerposten im Visier. Doch Mappus ist Geschichte, jedenfalls, was die Politik angeht. Mit ihm als Mensch sei er „nach wie vor auf einer persönlichen Ebene freundschaftlich verbunden“. Nur Tennis hätten die beiden schon lange nicht mehr gespielt.
Dann ist das Video gedreht, die politischen und persönlichen Fragen sind gestellt und die Bilder geschossen. Es geht den Wallberg hinunter. Halt! Noch eine praktische Frage: Wer kann Rülkes Pressesprecher und den Autoren dieser Zeilen zum Bahnhof bringen? Rülke ist bereit, auch wenn dies ein Umweg für ihn ist – Hauptsache, die Frage wird schnell geklärt. Zeit habe er wohl, sein nächster Termin ist erst in anderthalb Stunden. Doch ewige Diskussionen kann er nicht brauchen.
Lieblingsorte der Politiker
Sommerinterviews mit den fünf Fraktionsvorsitzenden im Landtag sind beim Staatsanzeiger schon Tradition. Dieses Jahr probieren wir eine Variante aus: Wir treffen die Politiker auf heimischem Terrain – an ihrem Lieblingsort. Wie sprechen über Politik, wollen aber auch wissen, was sie mit diesem Stück Erde verbindet. Den Anfang macht diese Woche Hans-Ulrich Rülke (FDP) in Pforzheim. Wir haben ihn auch gefragt, wohin es in der Ferien geht. Die Rülkes und ihre drei Söhne zieht es nach Griechenland. In einer Woche treffen wir Andreas Schwarz (Grüne) in Kirchheim/Teck.