Themen des Artikels
Um Themen abonnieren und Artikel speichern zu können, benötigen Sie ein Staatsanzeiger-Abonnement.Meine Account-Präferenzen
Özdemir und der Phönix-Moment der Grünen
Reutlingen. Ja, die strickenden Delegierten dürfen nicht fehlen, das ist Folklore auf einem Parteitag. Auch die eher legere Kleiderordnung zeigt, dass hier eine einst als basisdemokratische Partei vor über 40 Jahren gegründete Bewegung ankommt. Die jedoch längst den „Marsch durch die Institutionen“ angetreten ist und im Südwesten seit mittlerweile 13 Jahren regiert.
So kommt die grüne Familie zusammen. Es sind viele junge Delegierte, die in der Reutlinger Stadthalle auflaufen. Verkehrsminister Winfried Hermann, ein Urgestein der ersten Stunde, schmunzelt: „Ich höre heute mal, was der Nachwuchs so macht.“ Der Finanzminister Danyal Bayaz ist mit einer Frau Katharina Schulze da, die das neu geborene Baby auf dem Arm hat.
Legere Kleiderordnung und Basisdemokratie
Und Theresia Bauer, die Geschäftsführerin der Landesstiftung Baden-Württemberg und Ex-Ministerin, taucht in einer Lederjacke auf. Als dann der Erste Bürgermeister von Reutlingen, Robert Hann sagt: „Dass hier so frei auf Parteitagen diskutiert werden kann, ist eine Errungenschaft.“ So geht eben Demokratie.
Dass die Sicherheitskontrollen lange Schlangen vor der Halle bilden, greift dann auch gleich Cem Özdemir auf, der designierte Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2026: „Wir sollten alles dafür tun, dass so etwas nicht mehr nötig ist, bis dahin danke ich aber von ganzem Herzen den Polizistinnen und Polizisten.“ Warmer Applaus für die Polizei, auch das war schon mal anders bei den Grünen.
Özdemirs Rede liefert Sinnstiftung
Özdemirs Rede wird mit erwartet. Ursprünglich hatte man sogar überlegt, ihn auf dem Reutlinger Parteitag offiziell zu nominieren. Genau dort, wo vor Jahresfrist der voraussichtliche Herausforderer Manuel Hagel zum CDU-Landeschef gewählt wurde.
Diesen erwähnt Özdemir mit keiner Silbe. Stattdessen wärmt er die grüne Parteitagsseele mit Angriffen auf die FDP. So erzählt der 58-Jährige, dass er kürzlich unweit von Reutlingen an seiner ehemaligen Schule das Buch „Die Streithörnchen“ vorgelesen hat, wo es um den letzten Tannenzapfen im Jahr geht. „Ganz ohne offene Feldschlacht, ohne D-Day, ohne Ablaufpyramiden – vielleicht hätte ich es dem ehemaligen Finanzminister schenken müssen.“
Einen Vorbericht zum Parteitag lesen Sie hier.
Die CSU ist der Lieblingsgegner.
Oder als es gegen den Lieblingsgegner CSU geht. Deren Verkehrsminister hätten das Leistungsprinzip auf den Kopf gestellt: „Egal wie die nächste Bundesregierung aussieht, die CSU darf nicht den Verkehrsminister stellen. Und in Abgrenzung inszeniert sich der noch amtierende Agrar- und Bildungsminister der rot-grünen Minderheitsregierung in Berlin: „Es ist jetzt wieder die Zeit für die Erwachsenen.“ Doch ein kleiner Seitenhieb gegen seinen jugendlich wirkenden Kontrahenten Manuel Hagel?
Doch Özdemir spricht schon an die Bürger des Landes, als er daran erinnert, wie Württemberg nach dem Vulkanausbruch 1815 und dem Hungerjahr mit Dauerwinter danach sich neu erfunden hat. Indem junge Gründer wie Gottlieb Daimler gefördert wurden, Königin Katharina die Sparkassen gründete und so zur ersten „Venture Capital-Geberin“ wurde. Özdemirs Idee: „Wir brauchen wieder so einen Phönix-Moment für Baden-Württemberg.“
Warum Özdemir in Baden-Württemberg kandidiert.
Die besten Köpfe der Wissenschaft sollen nach Baden-Württemberg. Und die Grünen? Sollen wieder mehr zuhören. Dem Bosch-Mitarbeiter, der Sorgen um seinen Job hat, oder den Menschen, die sich nicht mehr sicher fühlen. Und dann gibt er das Motto aus: „Erst das Land, dann die Partei, dann die Person.“
Und es geht Özdemir um die liberale Demokratie, und er sagt: „Wer den Kompromiss denunziert, schadet der Demokratie.“
Der Phönix-Moment auch für die Grünen
Und dann bekennt er sich: Verantwortung zu übernehmen, das will er auch für sich. Und als Özdemir sagt: „Ich habe mich entschieden, für das Amt des Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg zu kandidieren“, erheben sich die Delegierten spontan, applaudieren minutenlang und jubeln. In diesem Augenblick vergewissert sich die Partei wieder, es doch noch schaffen zu können. Wo doch der Wind aktuell so gegen ihre Richtung weht. „Und ich trete an, um die Wahl zu gewinnen“, sagt der Bad Uracher, „ich habe große Lust dazu, und werde alles dazu tun.“ Er wolle fortführen, was Winfried Kretschmann „und ihr“ seid 13 Jahren gestaltet.
Es ist und soll vielleicht für die Grünen der Phönix-Moment sein.
Wie geht es weiter beim Parteitag?
Am Nachmittag noch eine wichtige Weiche gestellt: Die Landesliste zur Bundestagswahl wird aufgestellt, die neue Bundesvorsitzende Franziska Brantner und die ehemalige Vorsitzende Ricarda Lang nehmen die Spitzenplätze ein, auch ihre Reden werden mit Spannung erwartet. Am Sonntag dann der Landesparteitag- und dann wird auch der amtierende Ministerpräsident Winfried Kretschmann sprechen.