Minister bei der Architektenkammer

Özdemir hält eine Art Bewerbungsrede

Überall wo in diesen Tagen Cem Özdemir im Land auftaucht, fragen sich sofort alle: Erklärt er jetzt seine Kandidatur um die Kretschmann-Nachfolge? Natürlich hat er das bei der Landesarchitektenkammer nicht getan - aber mit seiner Rede einen so weiten Bogen gespannt, dass der Subtext klar war.

Cem Özdemir spricht im Haus der Architekten in Stuttgart.

Achim Zweygarth)
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Stuttgart. Es gibt in diesem Sommer kaum eine Woche, in der Bundesagrarminister Cem Özdemir nicht in „The Länd“ wäre. Erst kürzlich sprach er bei Südwestmetall über Fußball. Nun spricht er im Haus der Architektinnen und Architekten, ein gespanntes Publikum von 500 Gästen wartet darauf, was der ehemalige Grünen-Chef und aus Bad Urach stammende Grünen-Politiker erzählt.

Und dann ist er da, als einer der wenigen mit Krawatte. „Ich hätte auf meine Mitarbeiter hören sollen“, witzelt er, „aber ich habe ihnen gesagt: Das ist Stuttgart, da trägt man Krawatte. So bin ich halt.“ Zuvor war er im Brezelmuseum in Erdmannhausen (Kreis Ludwigsburg). Und schon hat er die Lacher auf seiner Seite.

Was folgt, ist eine fast einstündige Rede, die man gut auch als Bewerbung um die politische Nachfolge von Winfried Kretschmann deuten könnte. Natürlich sagt das Özdemir nicht, und verliert kein Wort darüber, dass in Grünen-Kreisen alle davon ausgehen, dass er im September als Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2026 präsentiert wird.

Kretschmanns Eigenschaften will er leben

Aber der 58-Jährige lobt vor allem die Eigenschaften am amtierenden Ministerpräsidenten, die er auch verkörpern will. „Er hat eine Kunst darauf gemacht, Fehler einzugestehen“, lobt Özdemir den 76-Jährigen. Und noch eine Eigenschaft streicht er heraus: „Politiker sollten nicht immer den Eindruck erwecken, für alles eine Lösung zu haben.“ Und genau so will er, Özdemir, es auch handhaben.

Und darüber hinaus gibt der Bundesminister sich betont überparteilich, staatstragend. Kein Angriff auf die CDU, die er mit keinem Wort erwähnt. Mit einem rhetorischen Kniff vermeidet er es auch, die Grünen vorwiegend als Opfer von verbalen Angriffen zu sehen: „Ich bin ein entschiedener Gegner der AfD. Aber was auf dem Parteitag geschieht, das geht nicht. Die Delegierten müssen sicher rein und wieder raus kommen.“ Gewalt sei immer zu verurteilen, dann aber bitteschön auch bei den Grünen. So beim Politischen Aschermittwoch wie in Biberach, als Özdemir durch aggressive Landwirte am Sprechen gehindert wurde.

Lesen Sie hier, wie Cem Özdemir Boris Palmer zurückholen will

Özdemir distanziert sich vom Ampelchaos

Noch bemerkenswerter ist, dass Özdemir sich von der Ampelregierung in Berlin distanziert. „Ich würde mir auch wünschen, dass es anders läuft“, sagt er. Erwachsene Menschen sollten miteinander um Lösungen ringen, statt sich zu streiten. Überhaupt – es müsse in Deutschland wieder gelten, was man verspreche, Zeit- und Kostenpläne wieder eingehalten werden. Disziplin. „Ich bin da ziemlich konservativ, aber das ist eben so“, sagt er.

Fast so, als wäre er nicht Bundesminister im Kabinett von Olaf Scholz, und als würden die Grünen in Baden-Württemberg nicht seit 13 Jahren den Regierungschef stellen – Özdemir inszeniert sich als Erneuerer.

Beispiel Stuttgart 21 – der Grüne zitiert Schweizer Kollegen, die über die Endlosbaustelle nur den Kopf schütteln, und süffisant anmerken: „Man muss das verstehen, in Deutschland gibt es zu viel direkte Demokratie, in der Schweiz kann man durchregieren.“

Und dann erzählt Özdemir noch seine persönliche Geschichte. Wie er als Kind „mit einer Mark Sechzig“ Pommes zum Mittag essen musste, die Familie kein eigenes Bad in der ersten Wohnung hatte. Wie er Deutschland als seine erste Heimat sieht, anders als die Eltern, die den „Mythos der Rückkehr“ immer am Leben erhalten hätten, auch nach 60 Jahren. Wie er sich auf dem zweiten Bildungsweg nach oben gearbeitet hat. „Ich weiß, wie es ist, in armen Verhältnissen zu leben“, sagt Özdemir, und blickt in verständnisvolle Gesichter.

Schwäbisch, Hochdeutsch, Englisch – alles geht

Mühelos wechselt er vom Hochdeutsch ins Schwäbische, wenn er Heimat und Verbundenheit des „Bundesministers aus The Länd“ demonstrieren will. Oder zitiert auch mal sätzeweise Englisch, völlig akzentfrei, ganz ohne Oettinger-Denlisch also. Und am Ende zitiert er den Schriftsteller Mark Twain, der sich angesichts der deutschen Wälder gewundert hat, warum Häuser nicht aus Holz gebaut werden. „Dann wurde es ihm klar: die Deutschen haben so viele Kur- und Heilbäder, sie müssen in Steinhäusern wohnen, um Rheumatismus für die Bäder zu haben.“ Irgendwie passt auch dieser schräge Vergleich, das Publikum klatscht und jubelt. Was bei eher sonst er konservativen Architekten keine Normalität ist.

Nach fast zwei Stunden zieht er weiter, schüttelt noch viele Hände. Özdemir kann nicht nur Bierzelt mit wütenden Bauern, sondern jedes Publikum ansprechen, jenseits der klassischen Grünenwählerschaft. Wenn jemand noch Zweifel hatte, dass die nach der Europawahl am Boden liegende Partei genau das braucht – Özdemir hat sie an diesem Mittag zerstreut.

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