Essay

Man bläht nicht eben mal so das Grundgesetz auf

14 Jahre nach Einführung der Schuldenbremse wachsen die Zweifel, ob das wirklich eine gute Idee war. Nicht nur Ministerpräsident Kretschmann sieht Verbesserungsbedarf, bemerkt Politikredakteur Michael Schwarz. 

Bundesverfassungsgericht-Urteil auf einem Ordner

picture alliance / CHROMORANGE)

Wäre das Grundgesetz nicht das Grundgesetz, sondern der Koran, würde sich die Reihenfolge der Texte in etwa umdrehen. Denn beide Werke sind nach Länge sortiert, nur dass im heiligen Buch des Islam zunächst die langen Suren kommen und dann die kurzen, während Artikel des Grundgesetzes mit ansteigender Nummer immer länger werden.

Grundgesetzliche Formulierungen: Von einfach zu kompliziert

Die Begründung für die Reihenfolge der Suren liegt im Dunkeln und mag dort verbleiben. Anders sieht es mit dem Grundgesetz aus: Die Tatsache, dass die Verfassung mit so einfachen Formulierungen wie „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ beginnt und mit so komplizierten endet, dass man sie an dieser Stelle unmöglich wiedergeben kann, ohne die Leser zu vergraulen, ist an sich schon bedenklich. Sie ist noch bedenklicher, wenn man sich klar macht, wie es dazu kam. Wollten die Väter des Grundgesetzes vor allem die Demokratie schützen, ging es späteren Autoren in erster Linie darum, sich gegen alles Mögliche abzusichern – mit Formulierungen, die derart ins Detail gehen, dass sie in einer Verfassung nichts zu suchen haben.

Detailverliebtheit in der Verfassung: Ästhetik oder Gefahr?

Das ist nicht nur eine Frage der Ästhetik. Es ist ja gut, wenn sich die Politik Regeln setzt. Wer sie aber gleich in die Verfassung schreibt – und dies in einer Detailverliebtheit, die an die 613 Lebensregeln erinnert, denen sich fromme Juden unterwerfen –, provoziert geradezu Umgehungstatbestände, weil diese Regeln lebensfremd werden, sobald sich die äußeren Umstände, unter denen sie einst entstanden, ändern.

Schuldenbremse und ihre Entstehungsgeschichte

Womit wir bei der Schuldenbremse wären, die die Verfassung um mehr als 1000 Wörter aufgebläht hat. Wie kam sie ins Grundgesetz? Da war zum einen ein wachsendes Bauchgrummeln angesichts der über viele Jahrzehnte steigenden Staatsschulden und der damit verbundenen Zins- und Tilgungsleistungen. Dazu kam 2008 die Lehman-Brothers-Pleite.

Nun war die Politik endlich bereit, sich zu zügeln. Aus den Erfahrungen mit den dehnbaren Maastricht-Kriterien zog man den Schluss, diesmal die Fesseln strammer zu ziehen. Und weil gerade eine Große Koalition in Berlin regierte, die über eine mehr als komfortable Mehrheit verfügte, weil man sich aber andererseits nicht mit den Ländern verderben wollte, die man überall braucht, entstand ein Monstrum, das nun im Weg steht, wenn man Deutschland in einer Welt, die aus den Fugen gerät, wieder auf die Spur bringen will.

Soll die Schuldenbremse ausgesetzt werden?
  • Nein 56%, 48 Stimmen
    48 Stimmen 56%
    48 Stimmen - 56% aller Stimmen
  • Ja 41%, 35 Stimmen
    35 Stimmen 41%
    35 Stimmen - 41% aller Stimmen
  • Mir egal 2%, 2 Stimmen
    2 Stimmen 2%
    2 Stimmen - 2% aller Stimmen
Stimmen insgesamt: 85
24. November 2023 - 1. Dezember 2023
Die Umfrage ist beendet.

Denn die 60 Milliarden Euro, die das Bundesverfassungsgericht der Ampel verweigert, weil sie sich des Tatbestands der kreativen Haushaltsführung schuldig gemacht hat, werden ja gebraucht. Etwa, um energieintensiven Branchen beim Umstieg auf grünem Wasserstoff zu helfen, beim Ausbau der Wärmenetze, der Elektromobilität und der Modernisierung des Schienennetzes.

Fehlt dieses Geld, wird es möglicherweise nichts mit der Klimawende. Und wenn die Welt – die ja zugegebenermaßen nicht nur aus Deutschland besteht – das 1,5-Grad-Ziel verfehlt wird, dann heißt es gute Nacht. Mit entsprechenden, auch fiskalischen Folgen.

Notwendigkeit von Investitionen in die Zukunft

Es ist also nicht damit getan, wie die Union gegen alles und jedes zu klagen und wie der liberale Bundesfinanzminister stur auf die Schuldenbremse zu verweisen. Das Geld wird gebraucht – und zwar jetzt. Investitionen, die in die Zukunft weisen, müssen möglich sein.

Das meint nicht nur der Chef des Ifo-Instituts, Clemens Fuest , das sehen auch drei Grüne so: Ministerpräsident Winfried Kretschmann, sein Finanzminister Danyal Bayaz und einer, der es immer schon gewusst hat: Fritz Kuhn. Der damalige Grünen-Fraktionschef und spätere Stuttgarter OB sagte in der entscheidenden Bundestagssitzung: „Sie [die Große Koalition, Anm. d. Red.] können nicht zwischen guten und schlechten Schulden differenzieren. Aber es macht nach unserer Überzeugung einen elementaren Unterschied, warum und zu welchem Zweck sich die öffentliche Hand in einer bestimmten Situation verschuldet.“

So ist es. Und jetzt muss nur noch das Grundgesetz geändert werden. Mit verfassungsändernder Mehrheit. Doch wie soll das gelingen – in Zeiten, da die Ränder wachsen und die Mehrheiten immer volatiler werden? Die Große Koalition hat Deutschland einen Bärendienst erwiesen, als sie 2009 gemeinsam mit den Ländern eine starre, jedes Detail regelnde Schuldenbremse in die Verfassung schrieb. Die Ampel könnte daran zerbrechen. Mit guten Absichten ist es nicht getan. Man muss auch gute Gesetze machen.

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