Kretschmann: Eine Grenze wurde überschritten
Brüssel. Einmal im Jahr trifft sich die Landespolitik in Brüssel. In der Rue Belliard in der belgischen Hauptstadt, mitten im Europaviertel mit dem Arbeitssitz des EU-Parlamentes und der Kommission, unterhält „The Länd“ eine Vertretung, und dorthin lädt die Landesregierung traditionell im Februar zum Neujahresempfang.
Alle sind sie gekommen – fast das ganze Kabinett, allen voran der Ministerpräsident Winfried Kretschmann, sein Stellvertreter Thomas Strobl. Auch auch der langjährige EU-Kommissar und Kretschmanns Vor-Vorgänger Günther Oettinger (CDU), den der grüne Premier fast schon liebevoll als „großen Netzwerker“ lobt.
Die Südwest-Familie trifft sich
Es hat was von einem Familientreffen, zu dem natürlich auch die kommunale Familie gehört: Steffen Jäger (CDU), der Gemeindetagspräsident, und sein Pendant vom Städtetag, der Karlsruher OB Frank Mentrup (SPD) sind natürlich dabei. Die Kommunalverbände unterhalten schließlich selbst einen Block weiter ein Europabüro, um ganz nah am Puls der Brüsseler Politik zu sein.
Die steht an diesem Montag unter Hochspannung – denn die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) hat angekündigt, eine zweite Amtszeit anzustreben. „Sie hat das gut gemacht, sie wird es weiter machen“, sagt Rainer Wieland (67), der Stuttgarter CDU-Europaabgeordneter.
Er sitzt seit 1997 im EU-Parlament, ist aktuell dessen Vizepräsident, der Elder Statesmen der Union. Es ist sein Geburtstag, den er in Brüssel feiert – übrigens ebenso wie die anwesenden Staatssekretäre Andreas Lindlohr und Ute Leidig (beide Grüne). Wieland hat schon vieles erlebt. Für die Europawahl am 9. Juni erhofft er sich noch mal Schwung für Europa.
Und darauf setzt auch Winfried Kretschmann, der die EU als ein „Bollwerk für Freiheit und gegen Nationalismus“ bezeichnet. Aber natürlich schwappt die heimische Politik aus dem Südwesten auch ins Ferne Brüssel über – schließlich ist die Landesvertretung ein kleines Stück Südwesten mitten in der EU-Kapitale.
Kretschmann: Haben als freie Gesellschaft verloren
Der Grünen-Politiker sieht die gewaltsamen Proteste im Umfeld des politischen Aschermittwochs der Grünen in Biberach als Angriff auf die gesamte Gesellschaft. „Egal wen es im Einzelfall trifft – wenn das passiert, haben wir als freie Gesellschaft im Ganzen verloren“, sagt er unter Beifall.
Von den anderen demokratischen Parteien fordert Kretschmann Solidarität. „Ich erwarte da Klarheit und Haltung – von allen Seiten. Gerade auch mit Blick auf die Kommunal- und Europawahlen in diesem Jahr.“ Die Ereignisse von Biberach seien auch ein Signal an alle demokratischen Kräfte zur Mäßigung, Verständigung und zum Ausgleich.
Er setzt auf die Einigkeit der Demokraten: „Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass sich die Mehrheit in unserem Land genau das wünscht: ein respektvolles Miteinander.“ Protest dürfe laut und polemisch sein, aber niemals bedrohlich werden oder in Gewalt kippen.
Da sind sich alle einig – zusammenstehen, für Europa und die Demokratie kämpfen , gegen die Populisten von rechts. Denn diese wollten Deutschland aus der EU bringen: „Das wäre Harakiri für die Demokratie.“
EU-Vizekommissionschef lobt die Dialogkultur aus BW
Höhepunkt ist der Auftritt des EU-Vizekommissionschefs Maros Sevcovic, einem der Stellvertreter von Ursula von der Leyen. Der 57-jährige Slowene lobt seinen „lieben Freund Günther Oettinger“, den er auch deswegen besonders schätzt, weil dieser ihn immer als „den guten Sozialisten“ vorgestellt habe.
Die Botschaft, die er mitgebracht hat, hört sicher vor allem der grüne Teil der Landesregierung gerne: „Wir dürfen stolz sein, nachhaltig zu sein.“ Von Baden-Württemberg habe er gelernt, wie wichtig Dialoge seien – und erinnert damit an die „Politik des Gehörtwerdens“, die Kretschmann zu seinem Mantra erklärt hat.
Es bleibt dem CDU-Innenminister Thomas Strobl, noch mehr Pathos einzubringen: „Europa braucht mehr Emotionen“, sagt er, und weiter: „Die Demokraten müssen zusammen stehen.“ Er zitiert ein Gespräche mit er langjährigen CDU-Europaabgeordnete Elisabeth Jeggle (76), die bis 2024 im Parlament saß: „Wer, wenn nicht wir, und wann, wenn nicht hier und jetzt.“
So ist die Südwestfamilie ganz bei sich – und feiert den Austausch mit der Brüsseler Politik. Schließlich gilt es, schon jetzt eine gute Startposition für Zuschüsse und Einflussnahme auf Gesetzesvorhaben für die kommende Legislaturperiode zu gewinnen – voraussichtlich wieder unter Ursula von der Leyen, der seit dem Adenauer-Vertrauten Walter Hallstein von 1958 bis 1967 ersten deutschen Kommissionspräsidentin.
Ganz viel „The Länd“ in Brüssel
Noch mehr Baden-Württemberg in Brüssel? Aber ja! Die gebürtige Baden-Badenerin und Landes-Jazzmusikpreisträgerin Clara Vetter spielt am Klavier, die Berufsschule Villingen-Schwenningen serviert das Essen (natürlich auch Maultaschen). Und als dann Kretschmann, Strobl und die grüne Landtagspräsidentin Muhterem Aras die 2024-Schwarzwälder-Kirsch-Torte anschneiden, erhält das erste Stück natürlich eine Weinkönigin aus dem Ländle.
Trotz aller Krisen und Angriffe auf die Normalität – The Länd feiert sich an diesem Abend selbst, und setzt so dem ständigen Stress und Lärm der politischen Debatte etwas entspannte Leichtigkeit entgegen.