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Jugendliche tanzen zu Bachs Meisterwerken
Ludwigsburg. „Noch weiter nach hinten! Genau so.“ Friederike Rademann macht eine Bewegung vor. Weit breitet die Choreografin und Tanzpädagogin ihre Arme aus, sinkt in eine Rückbeuge. Die Mädchen hinter ihr machen es nach. Hernach klopfen sie mit den Füßen, drehen sich, scheinen in die Luft zu boxen, rücken nah zusammen, die Arme vor der Brust kreuzend.
Andere, die sich in der Sporthalle der Schule am Favoritepark in Ludwigsburg eingefunden haben, schauen vom Spielfeldrand aus zu, markieren teils die Schritte ihrer Tanznummern. Schließlich geht es an diesem Samstag ums Üben, Üben, Üben.
Es ist die zweite Intensivprobe von „Gefühlsgewirr“ samt Gesamtdurchlauf – da müssen Rademann und ihr Team einiges zusammenführen. Das neue Stück von „BachBewegt!Tanz!“ kommt am 21. und 22. Februar im Forum am Schlosspark in Ludwigsburg auf die Bühne. Sechst- bis Zwölftklässler aus sechs Schulen nehmen teil. An Bord sind neben der integrativen Schule am Favoritepark die Schlossbergschule Vaihingen, das Otto-Hahn-Gymnasium Nagold, das Ratsgymnasium Minden in Nordrhein-Westfalen, aus Stuttgart die Jörg-Ratgeb-Schule, Gymnasium und Realschule, sowie die Grund- und Werkrealschule Gablenberg.
Musikalische Meisterwerke Schülern zugänglich machen
Das pädagogisch integrative Tanzprojekt „BachBewegt“ macht seit 2013 Jugendlichen unterschiedlichster Herkunft und Vorbildung musikalische Meisterwerke „hautnah“ zugänglich und körperlich erfahrbar. Ins Leben rief es die Internationale Bachakademie Stuttgart auf Initiative von Friederike Rademann. Die einstige Solistin der Semperoper in Dresden erarbeitet jährlich mit den Schülerinnen und Schülern in einem mehrmonatigen Arbeits- und Probenprozess eine Choreografie. Ziel: Bei den Mitwirkenden wie bei den Zuschauern Ohren, Augen und Herzen für die Musik zu öffnen. Im elften Jahr des Projekts tun das nicht nur Werke von Johann Sebastian Bach. Rademann, ihr Team sowie ihr Mann, der Dirigent Hans-Christoph Rademann, Leiter der Internationalen Bachakademie Stuttgart und der Gaechinger Cantorey, kredenzen ein feines Pasticcio in barocker Manier. Der Mix aus Opernarien und kirchlichen Stücken beinhaltet auch Perlen von Komponisten wie Antonio Vivaldi, Henry Purcell, Georg Philipp Telemann, Georg Friedrich Händel, Jan Dismas Zelenka – und als Übergang den „Ukuaro Waltz“ des Zeitgenossen Arvo Pärt. Das wird im Februar live interpretiert vom Originalklang-Orchester der Gaechinger Cantorey sowie Solisten.
An diesem Nachmittag freilich kommen die Klänge aus der Konserve für das „Gefühlsgewirr“. Essenzielle Emotionen des Menschseins werden da arrangiert in fünf Themenblöcken – Schwermut, Begeisterung und Tatendrang, Heiterkeit, Ohnmacht und Zuversicht. Das hat auch mit den Jugendlichen zu tun. Sie entwickelten erstmals das Stück mit. „Wir wollten BachBewegt!Tanz! weiterdenken, die jungen Menschen einbeziehen, fragten uns, was sie bewegt angesichts der besonderen Herausforderungen unserer Zeit“, so Dramaturgin Mareike Wink. „Also unterhielten wir uns mit den Teilnehmenden der letzten Projekte über ihre Situation, fragten, was sie erwarten. Welche Perspektive haben sie auf ihr privates Leben? Wie sehen sie die Zukunft unserer Welt? Was verunsichert sie, was gibt Mut, Hoffnung, Kraft?“
Schülerin sagt: „Das ist so eine coole Erfahrung“
Rademann verdeutlicht: „Wir wollten die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen mit einbeziehen. Deren Gedanken, Sorgen und Lebensgefühle bilden nun die Basis des Tanzabends, werden choreografisch, musikalisch und szenisch reflektiert.“ Entsprechend sei die Musik ausgesucht und den Themen zugeordnet worden. Schmunzelnd schildert sie, wie das Team tief in der Barockmusik kramte. „Bewusst entschieden wir: Sologesang ja, aber diesmal keinen Chor.“ Auch das Bühnenbild von Maria Pfeiffer und die Kostüme von Anne-Marie Miene soll eher abstrakt und reduziert daherkommen, mit Licht akzentuiert. „Noch muss sich manches fügen“, so Pfeiffer. „Ohne zu viel zu verraten. Da es ja um Gefühle geht, werden wir vor allem mit passenden Farben und Stoffen arbeiten.“
Rademann wendet sich wieder der Durchlaufprobe zu. Die Tanzenden nahmen just im Part zur „Ohnmacht“ und zur Arie „Lascia ch’io pianga“ aus Händels „Rinaldo“ verzweifelt ihre Köpfe in die Hände, kauerten, rollten übereinander. Nun erklingt in der Turnhalle aus Henry Purcells „King Arthur“ der legendäre „Cold Song“. Darin wird unter anderem beschrieben, wie schwach der Protagonist sei, kaum der bitteren Kälte begegnen, sich bewegen oder atmen könne, lieber erfrieren möchte: „Far unfit to bear the bitter cold, I can scarcely move or draw my breath? Let me, let me freeze again to death.“ Steif und zuckend bewegen die Schülerinnen und Schüler die Arme, drehen sich langsam, kommen kaum vorwärts, gegen die imaginierten tiefen Temperaturen ankämpfend, die körperlich wie seelisch gemeint sind.
Persönliche Erfahrungen einbringen
„Prima“, lobt Rademann, bewegt von der Ernsthaftigkeit der Darstellenden. „Da ist schon viel passiert in den vergangenen Wochen, super“, stellt sie fest, lächelnd anfügend: „Da hüpft mir schon das Herz. Wir alle haben ja unsere persönlichen Geschichten, auch die Jugendlichen – zu Hause, in der Schule, mit Freunden. Dass sie herkommen, sich Zeit nehmen, zusammen an einer Sache zu arbeiten, allein das ist schon toll.“ Und da werde nicht nur irgendwas gemacht, sondern Künstlerisches, was Menschen direkt bewege. „Klar, für mich ist Tanz meine Ausdrucksweise. Ich bin überzeugt, dass die Jugendlichen, die sich noch nicht oder schon etwas damit beschäftigt haben, davon einen Zugewinn haben. Denn da geht es um das Spüren des Körpers, dem Inneren, was dann äußerlich zum Ausdruck kommt, am Anfang erst vorsichtig, aber dann wächst das mehr und mehr an.“ Das unterstreicht auch Frank Meier, Musik- und Religionslehrer am Otto-Hahn-Gymnasium (OHG) Nagold. „Das ist einfach ein besonderes Projekt, bei dem die Schülerinnen und Schüler was Einzigartiges mitnehmen. Wir waren schon bei anderen BachBewegt-Projekten dabei – beim Weihnachtsoratorium zum ersten Mal. Damals begleitete es ein Kollege von mir, der nun im Ruhestand ist. Ich habe das danach übernommen.“ Nun macht das OHG mit vier Schülerinnen und einem Schüler mit. Denen steht die Begeisterung ins Gesicht geschrieben. Felicia schildert, wie sie plötzlich Musik neu erlebe. „Die bleibt einem im Ohr. Und ich merke, wie ich im Alltag nun ganz anders da stehe, manchmal gar Moves einbaue von hier, das läuft schon automatisch. Man hat ja so seine Lieblingsbewegungen.“
Und nicht nur das. Das Einüben, die Durchläufe und das anstehende Probenwochenende machten einen Riesenspaß, auch dass man am Ende mit so einer Riesengruppe auf der Bühne stehen dürfe. „Das ist so eine coole Erfahrung! Und es bilden sich Freundschaften mit Leuten, die ich sonst nie getroffen hätte.“ Sie habe noch mit einigen Leuten der vergangenen Projekte Kontakt. Cool sei zudem, dass die Jugendlichen diesmal eigene Erfahrungen und Gefühle einbringen könnten, betont sie. Immer wieder hätten die Mitschülerinnen darüber mit ihr gesprochen, sich im Alltag damit beschäftigt. „So kann man sich deutlich mehr damit identifizieren, weiß was dahinter steckt. Wir zeigen eben nicht nur das, was die Außenwelt von uns denkt, sondern das, was direkt von uns kommt.“
Das bestätigt auch Felix vom OHG. Er gibt mit Felicia im Stück ein berührendes Duett. Zu partizipieren, sich selbst zu reflektieren und das Stück so mitzugestalten, habe ihm viel gebracht. „Ich kann mich nun nochmals anders, tiefer reinbegeben in Gefühle wie etwa Ohnmacht – und so Bewegungen authentischer rüberbringen.“ Das übertrage sich auch auf das Publikum. „Das sieht man dann auch auf der Bühne. Alles wird lebendiger und dynamischer.“ Und er schildert, dass er nun bei einer Bewegung, in der er nach sich physisch greifen müsse, das auch psychisch spüre. „Das ist, als würde es mich wirklich ergreifen, also auch seelisch. Die Bewegung überträgt sich auf mich – das Emotionale und Physische geht einfach Hand in Hand.“
Nicht nur einzelne Wissensteile, sondern das Ganze betrachten
Dieser Satz bewegt seinen Lehrer Frank Meier. Nach einer kurzen Pause bringt er die Händelarie „Lascia ch’io pianga“ ins Spiel, zu der seine Schüler kurz zuvor noch durch die Halle tanzten. „Wunderbar, eine der schönsten Arien überhaupt! Da sieht man richtig, wie euch diese Musik wirklich packt.“ Das zeige, wie vielschichtig es sei, was die Jugendlichen mit solchen außerschulischen Kooperationsprojekten in ihr jeweiliges Leben mitnähmen. „Da geht es einerseits um Musik und Tanz – damit auch eine Form des Austauschs und Dialogs. Aber andererseits auch um das Gesamtempfinden für Kultur im Allgemeinen, der Selbstwahrnehmung und Positionierung.“ Denn das sei ein wesentlicher Teil der Persönlichkeitsbildung, diese müsse ganzheitlich angegangen werden. „Das Wichtigste an Bildung überhaupt ist doch, dass man nicht nur einzelne Wissensteile abgetrennt voneinander vermittelt, sondern das Ganze einbettet in das große Bild.“
Projekt gibt es seit 2013
Tänzerin und Choreografin Friederike Rademacher initiierte 2013 „BachBewegt!Tanz!“ an der Internationalen Bachakademie Stuttgart, um Jugendlichen verschiedenen Alters und Herkünften einen barrierefreien Zugang zu klassischer Musik und Tanz zu bieten. Zu früheren Stücken gehören Bachs Weihnachtsoratorium und Matthäus-Passion, Vivaldis „Jahreszeiten“ und Mozarts „Requiem“. Die Leitung der Internationalen Bachakademie Stuttgart und ihrem Ensemble, Gaechinger Cantorey, übernahm 2013 Hans-Christoph Rademann von deren Gründer Helmuth Rilling. Sie wird unterstützt vom Land Baden-Württemberg, der Stadt Stuttgart sowie Sponsoren und privaten Förderern.