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Ist der XXL-Landtag noch zu stoppen? Dieter Distler gibt nicht auf
Bietigheim-Bissingen. Glück muss man haben im Leben. Wobei es einem nicht immer in den Schoß gelegt wird, wie Dieter Distler weiß. Man muss auch an sich glauben.
Geboren wurde der Mann, der sich in den Kopf gesetzt hat, den „XXL-Landtag“ zu stoppen, der Baden-Württemberg droht, falls das Wahlrecht (siehe Kasten) nicht doch noch vor 2026 geändert wird, vor 81 Jahren als dritter von drei Söhnen auf einem Bauernhof im fränkischen Baudenbach. Dies war sein erstes Glück. Denn der erste erbte den Hof, der zweite ging zur Bahn, weil das etwas Sicheres war. Der dritte durfte tun, wonach es ihm gelüstete.
Wobei die Anfänge alles andere als einfach waren. Die Eltern hatten wenig Geld, so wurde der Sohn, als er ans Gymnasium in Neustadt an der Aisch wechselte, bei einer Pfarrersfamilie untergebracht. „Die hatten so großes Besteck, dass ich damit nicht essen konnte“, erzählt er. Doch dann sei der Kirchenrat gekommen, habe das Elend gesehen und die Eltern überredet, den Jungen ins Internat zu stecken, obwohl dies 50 Mark im Monat kostete.
In der Abiklausur stellte er die gestellte Aufgabe infrage
In Neustadt öffnete sich Jahre später für Distler eine neue Welt, die hinter einer kleinen gotischen Tür in der Kirche verborgen war, neben der er als Schüler oft im Gottesdienst saß. Dahinter lagerten Bücher von unschätzbarem Wert. Unter anderem die Schedelsche Weltchronik von 1493 mit ihren fast 2000 farbigen Holzschnitten, an der Dürer mitgewirkt haben soll. Dies war sein zweites Glück. Bis heute sind Bücher die große Leidenschaft von Distler geblieben. In seinem Haus in Bietigheim hat er alles, was man für den Buchdruck braucht: Bleilettern, Farbe, Papier und eine tonnenschwere Druckmaschine.
Von Neustadt ging es zum Studium nach München. Doch halt! Erst wartete noch das Abitur. Und dabei leistete sich Distler einen Lapsus, der wohl typisch ist für diesen Mann, der von sich sagt: „Wenn ich von etwas überzeugt bin, dann kämpfe ich mit allem, was ich habe.“
Das Thema im Fach Deutsch lautete: „Inwieweit kann man den Charakter eines Volkes erkennen, wenn man dessen Sprache lernt?“ Distler stellte die Frage als solche infrage. Weil es seiner Ansicht nach keinen Volkscharakter gibt. Dafür kassierte er – „Thema verfehlt“ – eine Fünf.
Er ging dennoch seinen Weg, studierte in München Chemie, Glück Nummer drei, heuerte bei der BASF in Ludwigshafen an, Glück Nummer vier, machte Karriere. Irgendwann wechselte er nach Stuttgart, wo die BASF 70 Millionen Mark in ein neues Werk steckte. Später reiste er zwischen Deutschland, den Philippinen, Argentinien und den USA hin und her und verantwortete einen Umsatz von 1,2 Milliarden Mark. Noch später wurde die Fabrik wieder verkauft und Distler stieg ab vom Bereichsleiter zum Abteilungsleiter, was wenige tun, die es so weit gebracht haben. Doch für ihn war dies die richtige Entscheidung. Er habe das tollste Arbeitsgebiet gehabt, das man haben kann: wässrige Polymerdispersionen. Er war vom Fach und schrieb ein Buch über das Zeug, ohne das es keinen modernen Klebstoff gäbe und das die Lebenszeit von Straßen erhöht, doch in Deutschland nur selten verwendet wird, weil Kämmerer kameralistisch, also von Jahr zu Jahr denken.
Eines Tages endete das Berufsleben und der Ruhestand begann. Er besaß ein schönes Haus in Bietigheim, hatte eine große Familie und zwei Hobbys: Neben dem Buchdruck betreibt Distler, dessen Vorfahren wegen ihres evangelischen Glaubens Österreich verlassen und sich in Franken angesiedelt hatten, Ahnenforschung.
Sein Glück hätte vollkommen sein können. Wäre ihm nicht ein Zeitungsartikel über den für 2026 prognostizierten XXL-Landtag in die Finger gekommen. Und in derselben Ausgabe ein weiterer, in dem es darum ging, wie viel das Land spart, indem es seine Lehramtsanwärter in den Sommerferien nicht bezahlt: fünf Millionen Euro. Gegenüber 200 Millionen Euro, die es laut Landesrechnungshof kosten könnte, wenn der Landtag wie von Wahlforschern prognostiziert bis über 200 Abgeordnete wachsen sollte (siehe auch Grafik).
Dazu muss man wissen, dass Distler sich nach der Zeit bei der BASF nicht sofort in den Ruhestand verabschiedete. Stattdessen arbeitete er als Berater. Kunde war das Economic Development Board of Singapore, Thema die Wasserversorgung. Der Stadtstaat Singapur hatte bis dato immer sein Wasser aus Malaysia bezogen. Dann vervielfachten die Malaien den Preis. „Wir haben am Vormittag zusammengesessen, überlegt, was man machen muss. Und dann am Nachmittag ging die Arbeit los. Für hiesige Verhältnisse unvorstellbar.“
Nein, er möchte nicht in einer Diktatur wie Singapur leben, doch auch in China könne man beobachten, dass autokratisch regierte Staaten bisweilen schneller handelten als Demokratien. Man müsse einen gesunden Mittelweg finden. „Und ich denke, wir sind mit unserer Bürokratie eher auf der schlechten Seite.“
Distler konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum ein Bundesland von der Größe Baden-Württembergs in Zukunft so viele Abgeordnete bräuchte. Deshalb erkundigte er sich, was er tun könne, um dies zu ändern. Und erfuhr, dass es zwei Möglichkeiten gebe: einen Volksantrag, der den Landtag zwingt, über ein Gesetz zu beraten. Und ein Volksbegehren, das, wenn es der Landtag nicht übernimmt, zu einer Volksabstimmung führt. Möglichkeit eins schied für ihn aus, denn es war klar, dass eine breite Mehrheit aus Grünen, CDU und SPD an der aktuellen Gesetzeslage nichts ändern würde. Blieb Möglichkeit zwei. Und die Notwendigkeit, ein Zehntel der Wahlberechtigten, also etwa 700 000 Personen, dazu zu bringen, das Volksbegehren zu unterzeichnen.
Davon ist Distler anderthalb Monate vor Ablauf der letzten Frist derart entfernt, dass an dieser Stelle die Erzählung enden könnte. Und er sich wieder intensiver den beiden Hobbys, der Lebensgefährtin, den Kindern und Enkeln widmen könnte. Doch Distler wäre nicht Distler, wenn er jetzt aufgeben würde. Auch wenn er einmal kurz davor war, im Frühjahr, als er schon 1500 Unterschriften zusammenhatte und vom Innenministerium Bescheid bekam, dass er sie wegwerfen kann, weil nicht der vollständige Gesetzesname über dem Formular stand. „Meine Enkel sagten: Opa, das kannst du nicht machen. Du hast angefangen. Bleib dran.“ Auch wenn die meisten der bereits gedruckten 20 000 Zettel in Kindergärten landeten.
Die FDP, die mit ihrem Vorhaben scheiterte, unterstützt nun Distler
Und so ist er dran geblieben. Hat die FDP, die mit einem ähnlichen Volksbegehren am Veto des Innenministeriums gescheitert ist − sie klagt dagegen vor dem Verfassungsgerichtshof − , mit ins Boot geholt. Trifft sich einmal pro Woche mit seinen Mitstreitern. Versucht, jene 300 000 Euro zu beschaffen, die es bräuchte, um eine professionelle Kampagne aufzuziehen. Hofft auf ein exponentielles Wachstum, wenn die Menschen endlich kapieren, worum es geht.
20 000 Unterschriften hatte Distler Anfang November zusammen. Die neuen Zahlen bekommt er Anfang Dezember. Der Initiator ist optimistisch, dass sie deutlich höher liegen, schließlich fand unterdessen ein landesweiter Aktionstag statt.
Er habe lange genug in der Forschung gearbeitet, um zu wissen: „90 Prozent der Projekte gehen da schief.“ Das hat ihn nie abgeschreckt. Genauso wenig wie damals die Fünf. Dieter Distler wusste immer, was er kann. Und er hat früh begriffen, dass jeder seines Glückes Schmied ist.
Das neue Wahlrecht und Distlers Gegenvorschlag
Seit seiner Gründung im Jahr 1952 galt im Land Baden-Württemberg ein ausgeprägtes Persönlichkeitswahlrecht. Jeder Wähler hatte nur eine Stimme. Eine Zweitstimme wie bei der Bundestagswahl gab es nicht.
Dies ändert sich bei der Landtagswahl 2026. Erstmals haben die Wähler zwei Stimmen, eine für den Wahlkreiskandidaten, den anderen für die Partei. Dafür hatten sich die Grünen eingesetzt – mit dem Argument, dass bei einer Listenaufstellung Frauen, Jüngere und Vertreter von Minderheiten eher eine Chance auf ein Mandat hätten. Die CDU, die sich lange dagegen gesträubt hatte, trug 2022 die Wahlrechtsänderung mit.
Der Bietigheimer Rentner Dieter Distler befürchtet, basierend auf Prognosen des Friedrichshafener Wahlforschers Joachim Behnke, eine Aufblähung des Landtags auf über 200 Abgeordnete. Er will dies per Volksbegehren verhindern und schlägt vor, die Zahl der Wahlkreise von 70 auf 38 zu senken – so viele wie bei der Bundestagswahl. Die Mindestgröße des Landtags soll von 120 auf 68 Mandate sinken, die Zweitstimme soll bleiben.