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Ist das Wahlrecht in Baden-Württemberg zu demokratisch?
Stuttgart. Das Erschrecken vor allem in Großstädten nach der Kommunalwahl ist groß. In Pforzheim oder Ulm ist der Gemeinderat derart zersplittert, dass er kaum noch regierbar ist. Oder Freiburg mit einer Rekordzahl von 21 angetretenen Listen. Eine Vielzahl von Mini-Listen mit Partikularinteressen ist angetreten, auch in Stuttgart sind 14 Gruppen im Stadtparlament.
Nun ist das zunächst ein Zeichen für lebendige Partizipation. Die Menschen suchen Alternativen zu den etablierten Parteien, die Bürgerschaft bringt sich ein. Kreative Gruppierungen wie die „Stadtisten“ in Stuttgart mit ihren inhaltsstarken Plakaten sind eine Bereicherung für den demokratischen Diskurs.
Und eines stimmt auch: Nach der Wahl schließen sich die vielen Einzelstadträte von der „Partei“ über die Tierschutzpartei bis zur Europapartei Volt oft doch zu größeren Fraktionen zusammen, so dass die Arbeitsfähigkeit wieder erleichtert wird. Das mildert den Effekt der Zersplitterung ein Stück weit ab, in der Landeshauptstadt gibt es sogar eine recht stabile „ökosoziale Mehrheit“ über Fraktionsgrenzen hinweg.
Interaktive Karten mit den Ergebnissen der Kommunalwahlen finden Sie hier.
Kein Wahlrecht ist so demokratisch wie das im Südwesten
Dennoch darf die Frage gestellt werden, ob der Demokratie nicht ein wenig zu viel des Guten getan wird. Das baden-württembergische Kommunalwahlrecht ist schon das demokratischste bundesweit. Der Wähler kann nicht nur Parteilisten wählen, sondern durch Kumulieren Einfluss nehmen auf die Reihenfolge der Kandidaten, und durch Panaschieren sogar Bewerber anderer Parteien auf eine Liste schreiben. In vielen Stadtteilen ist durch die Unechte Teilortswahl sogar garantiert, dass Stadtbezirke angemessen im Gesamtgremium vertreten sind. Das allein sichert maximale Mitsprache und macht das Wahlrecht mitunter schon so kompliziert, dass manchmal nur Experten durchblicken.
Eine Übersicht über die Kreistagswahlen finden Sie hier.
Der Effekt der Zersplitterung rührt durch die Änderung des Auszählverfahrens her, das noch unter Grün-Rot ab der Kommunalwahl 2014 umgesetzt wurde. Bis dahin galt das Auszählverfahren nach d’Hondt, das größere Parteien bevorzugt. Seit zehn Jahren werden die Sitze nach Sainte-Laguë/Schepers wie bei der Landtagswahl berechnet.
Schon winzige Gruppierungen kommen einfach in den Stadtrat
Das ist „gerechter“, weil es die Stimmenanteile exakt abbildet. Das führt aber dazu, dass man in Großstädten mit 40 oder 60 Mandaten schon ab einem Prozent einen Sitz im Stadtrat erhält. Da reicht es, 20 Kandidaten zu versammeln und ein wenig Wahlkampf zu machen, und schon sitzt ein Vertreter im Gemeinderat. Ob das wirklich mehr Demokratie mit sich bringt oder eher auch Spaßkandidaturen fördert, kann man hinterfragen.
Eine Sperrklausel könnte verfassungsrechtlich schwierig sein, aber die Rückkehr zum alten Zählverfahren wäre keineswegs das Ende der Demokratie. „Weimarer Verhältnisse“ sind nicht erstrebenswert.