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Essay

Intoleranz gegen Intoleranz sichert erst die Freiheit

Die Wehrhaftigkeit der Demokratie im Grundgesetz ist wichtig, wie ein Symposium in Ludwigsburg zeigt. Ein Essay von Christoph Müller.

Der Parlamentarischer Rat, der das Grundgesetz verfasste, tagte vom 1. September 1948 bis zum 8. Mai 1949 in Bonn. Im Bild die beiden Berliner Sozialdemokraten Otto Suhr (2. von links) und Ernst Reuter (ganz links).

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Feiern zum Jubiläum des Grundgesetzes gab es diesmal besonders viele – im Mai, als sich sein Bestehen zum 75. Mal jährte. Ein Festsymposium aus diesem Anlass am neuen  Demokratie-Institut der Hochschule Ludwigsburg fand dagegen erst an diesem Montag statt: dem 17. Juni. Arg spät – und doch ein äußerst sinniger Termin.  Denn das Grundgesetz ist in besonderer Weise mit der Einheit Deutschlands verknüpft.

Der Tag der Deutschen Einheit ist heute ein Feiertag im besten Sinne und findet im Oktober statt: Aber erst seit 1990. Zuvor wurde er, freilich nur im Westen, jahrzehntelang am 17. Juni begangen – und war eigentlich ein Tag des Gedenkens an und der Trauer über die blutige Niederschlagung des Aufstands im Osten Deutschlands durch sowjetische Truppen im Jahr 1953, die die Spaltung Deutschlands auf Jahrzehnte besiegelte.

1949, vier Jahre zuvor, nannten die Mitglieder des Parlamentarischen Rats, die im Westen die freiheitlich-demokratische Grundordnung erarbeiteten, ihr Werk Grundgesetz und nicht Verfassung, um dessen provisorischen Charakter zu betonen. Denn sie fürchteten, andernfalls die Spaltung Deutschlands zu zementieren. Der Osten sollte die Möglichkeit erhalten, später beizutreten – wie es 1990 dann ja geschah.

Das Grundgesetz war eine Reaktion auf eine traumatische Erfahrung der Weimarer Republik, deren legalistisches Verfassungsverständnis die Aushebelung und Abschaffung der Demokratie durch ein Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten ermöglicht hatte. „Es soll sich nicht jener auf die Grundrechte berufen dürfen, der von ihnen Gebrauch machen will zum Kampf gegen die Demokratie und die freiheitliche Grundordnung“, postulierte daher Verfassungsvater Carlo Schmid.  Der Grundsatz der wehrhaften Demokratie lautet: Keine Toleranz gegenüber den Feinden der Toleranz, der Schutz des Grundgesetzes gegen seine Feinde war dessen Vätern und Müttern ein Herzensanliegen.

Nach 1990, der Wiedervereinigung Deutschlands, schienen innere wie äußere Feinde überwunden, und dieser geschichtlich traumhafte (Ausnahme-)Zustand vielen bereits die neue Normalität zu sein. Ein hybrider US-Professor, Francis Fukuyama, sprach vom Ende der Geschichte: Die Demokratie habe weltweit gesiegt.

Das glaubt momentan wohl niemand mehr. Russland führt Krieg in Europa, von anderen äußeren Bedrohungen und Verwerfungen einmal abgesehen, und im Inneren haben extreme Parteien Zulauf. Das Land erscheint wieder uneins. Mehr als die Hälfte der Befragten in den alten Bundesländern ist laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung unzufrieden mit der Demokratie,  in den neuen Bundesländern sind es sogar zwei Drittel.  Und eine Gruppe selbsternannter Reichsbürger hat sogar, wie dilettantisch auch immer, einen Umsturzversuch geplant.

Die Wehrhaftigkeit der Demokratie ist also wieder gefragt, damit die Balance von Sicherheit und Freiheit gelingt. Welche Mittel taugen dazu? Als eine Lehre aus dem Untergang der Weimarer Republik, haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes auch ein Bundesverfassungsgericht vorgesehen als Hüter der Grundrechte. Parteienverbote, der Entzug staatlicher Finanzmittel für extremistische Parteien, die Grundrechtsverwirkung für Einzelpersonen – das sind Instrumente zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die von der Verfassung „vorgesehen, aber von hohen Voraussetzungen abhängig sind“, wie Justizministerin Marion Gentges (CDU) in Ludwigsburg sagte. Bezeichnend für den Ernst der Lage ist, dass darüber nachgedacht wird, wie „das Bundesverfassungsgericht vor Übernahme durch Verfassungsfeinde zu schützen ist“.  Denn „Verfassungsgerichte zählen zu den primären Zielen, wenn Populisten die Macht erhalten“.

Selbstverständlich und unzerstörbar sind weder Verfassungen noch Demokratien.  „Alle tragen Verantwortung für die öffentlichen Angelegenheiten, nicht nur die drei Gewalten“ sagte  Gentges und fuhr fort: „Ich bin bekennender Fan des Grundgesetzes“. Ein passendes Bild zur Zeit der Fußball-EM. Wie dort kommt es nicht nur auf die Spieler auf dem Platz an. Fans sind mehr als nur Zuschauer: Sie gehen mit, sie fiebern mit, sie machen mit – und einige werden, wie einst Manuel Neuer, vom Fan später selbst zum Hauptakteur und Nationaltorhüter.

Denn eine Zuschauerdemokratie kann die Bundesrepublik wohl  nicht mehr bleiben, wenn sie eine Demokratie bleiben will.

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