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In Stammheim beginnt ein Mammutverfahren
Stuttgart. Sie wollten das politische System in Deutschland stürzen, Strukturen für eine eigene Staatsordnung waren bereits grob ausgearbeitet, als Staatsoberhaupt hätte Heinrich XIII. Prinz Reuß fungieren sollen. Dass sie Tote billigend in Kauf genommen hätten, zeigt schon allein die Liste der sichergestellten Waffen, darunter 382 Schusswaffen. Doch dank der akribischen Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft muss sich die Gruppe um den Prinzen nun vor Gericht verantwortet.
Neben dem Verfahren am Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart finden in Frankfurt und München zwei weitere Prozesse statt. In Stuttgart beginnt am kommenden Montag die Hauptverhandlung gegen die neun Angeklagten unter anderem wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens (Aktenzeichen: 3 St 2 BJs 445/23-4).
Während in Stuttgart der militärische Arm der Gruppe angeklagt ist, beschäftigen sich die Richter in Frankfurt mit den mutmaßlichen Rädelsführern, in München stehen die übrigen mutmaßlichen Mitglieder der Gruppe vor Gericht. Insgesamt hat die Bundesanwaltschaft 27 Verdächtige angeklagt, sie sitzen alle in Untersuchungshaft (siehe Kasten).
Anklagen im Bereich Rechtsextremismus und „Reichsbürger“ nehmen zu
Der Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, Andreas Singer, geht davon aus, dass mit dem Verfahren, dass er als eines der bislang größten Staatsschutzverfahren in der Bundesrepublik bezeichnet, „ein neues Kapitel Staatsschutzgeschichte in Stammheim geschrieben wird“. Ihm zufolge rückt das Inland stärker in den Fokus. Von 2016 bis Ende 2020 befassten sich die Staatsschutzsenate beim OLG Stuttgart vor allem mit Verfahren zum islamistischen Terror, oft mit Bezügen zum syrischen Bürgerkrieg und den in die Kämpfe involvierten Gruppen wie dem Islamischen Staat und der al-Nusra-Front.
Darüber hinaus wurden zahlreiche Anklagen gegen Personen aus dem Umfeld der „Arbeiterpartei Kurdistans“, der „Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas“, der „Tamilischen Befreiungstiger“ und anderer ausländischer terroristischer Vereinigungen verhandelt.
Zunehmend staatsfeindliche Tendenzen in der Gesellschaft hierzulande spiegeln sich nun Singer zufolge auch in den Staatsschutzverfahren wider. „Seit Ende 2020 nehmen Anklagen aus dem Bereich des Rechtsextremismus und gegen Reichsbürger spürbar zu“, sagte er am vergangenen Freitag, als er Journalisten durch das Prozessgebäude führte. Allein 2023 haben die Staatsschutzsenate zwölf Angeklagte zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt.
Die wachsende Bedrohungslage ist in den Gerichtssälen angekommen
Darunter waren nach Angaben des OLG die bundesweit ersten Verfahren, in denen der Generalbundesanwalt wegen schwerer, aus ideologischer Überzeugung begangener Gewalttaten Anklage gegen je einen „Reichsbürger“ erhoben hat. „Diese Straftaten sind Folge einer besorgniserregenden gesellschaftlichen Entwicklung der Spaltung und Polarisierung“, sagt Singer. Der Rechtsstaat werde von einem wachsenden Teil der Bevölkerung in Frage gestellt oder gar offen angefeindet.
Nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz waren Ende 2022 bundesweit rund 23 000 Personen der Reichsbürger-Szene zuzurechnen. Nach der Definition des Bundesinnenministeriums eint „Reichsbürger“ – bei aller ideologischen und organisatorischen Heterogenität –, dass sie die Existenz der Bundesrepublik und ihr Rechtssystem ablehnen. Mittlerweile nimmt der Verfassungsschutz an, dass es bundesweit etwa 2300 gewaltbereiten Personen gibt, von denen viele schwere Waffen besitzen. In Baden-Württemberg geht man von rund 3800 Personen aus. „Hieraus ergibt sich eine reale, seit Jahren wachsende Bedrohungslage, die in unseren Gerichtssälen angekommen ist“, sagt Singer. Diese Entwicklung müsse man ernst nehmen. „Dass Reichsbürger Polizisten als Repräsentanten unseres Rechtsstaates gezielt töten wollen, muss uns alarmieren. Jeder Angriff auf einen Polizisten ist ein Angriff auf unsere Demokratie und damit auf jeden von uns.“
Staatsschutzverfahren sind komplex und aufwändig
Angesichts dieser Entwicklungen kommt den Staatsschutzsenaten eine zentrale Rolle zu. Das Staatsschutzstrafrecht dient dem Bestand und dem Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Die Ursachen dafür, warum Staatsschutzverfahren aufwändig und langwierig sein können, sind laut OLG vielfältig. Im Zentrum der Beweisaufnahme stehen meist Organisationsdelikte wie die Bildung einer terroristischen Vereinigung, die auf die Begehung schwerster Straftaten wie Mord und Totschlag gerichtet ist.
Aufgrund der davon ausgehenden Gefahr setzt die Strafbarkeit bereits im Vorfeld terroristischer Anschläge und Umsturzversuche an. Diese Vorverlagerung bedingt, dass die Staatsschutzsenate nicht nur die Vereinigung als solche aufklären und feststellen müssen, sondern auch deren Entstehung, Organisationsgrad, Struktur und Ziele sowie interne Willensbildungsprozesse. Die komplexen Sachverhalte erstrecken sich häufig über lange Zeiträume, liegen meist Jahre zurück und betreffen mitunter auch Vorgänge im Ausland.
Beweismittel: Über 300 Zeugen, 13 Sachverständige und 120 Urkunden
Die Erkenntnisse zu den meist konspirativ tätigen Organisationen beruhen in großem Umfang auf verdeckten Ermittlungsmaßnahmen. Aufgrund der in Strafverfahren geltenden Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit, bilden Richter sich nicht anhand der Ermittlungsakten, sondern aus der Hauptverhandlung heraus eine Überzeugung. Die Staatsschutzsenate müssen daher über alle für den Schuldspruch relevanten Erkenntnisse in der Hauptverhandlung Beweise erheben.
Für die anstehende Verhandlung sind fünf Richter und zwei Ergänzungsrichter benannt. Zu den neun Angeklagten kommen 22 Verteidiger. Der dritte Strafsenat hat mit dem Eröffnungsbeschluss festgestellt, dass der bei einer Wohnungsdurchsuchung im März 2023 verletzte Polizist berechtigt ist, sich als Nebenkläger anzuschließen. Ihm wurde ein Rechtsanwalt als Beistand bestellt.
Als Beweismittel sind laut Anklage über 300 Zeugen aufgeführt, darunter 18 gesondert Verfolgte, 270 Polizeibeamte und 48 sonstige Zeugen. Dazu werden 13 Sachverständige angehört und außerdem 120 Urkunden miteinbezogen. Die Anklage des Generalbundesanwalts hat 600 Seiten.
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600 Seiten Anklageschrift
Der Anklage des Generalbundesanwalts liegt ein umfangreiches Ermittlungsverfahren zugrunde. Die Akten umfassen laut Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart 700 Stehordner mit rund 400 000 Blatt, die Anklage ist 600 Seiten lang. Zeitgleich mit der Anklage zum OLG Stuttgart wurden bei den OLG Frankfurt und München weitere 18 Personen angeklagt. „Dass sich drei Oberlandesgerichte in parallel zu führenden Hauptverhandlungen mit derselben, bislang nicht gerichtlich festgestellten, terroristischen Vereinigung befassen müssen, hat es so noch nie gegeben“, so der Präsident des OLG Stuttgart, Andreas Singer.