Themen des Artikels

Um Themen abonnieren und Artikel speichern zu können, benötigen Sie ein Staatsanzeiger-Abonnement.Meine Account-Präferenzen

Interview: Winfried Plötze

„Im Rettungsdienst sind die Fehleinsätze großes Thema“

Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der Barmer Baden-Württemberg, sieht viele Ansätze, um den Rettungsdienst zu entlasten. Allem voran, setzt er sich dafür ein, die Zahl der Fehleinsätze zu reduzieren.

Winfried Plötze ist Landesgeschäftsführer der Barmer Baden-Württemberg. Er beschäftigt sich stark 
mit der Zahl der Fehleinsätze im Rettungsdienst. Diese gelte es zu reduzieren.

Barmer BW)
Staatsanzeiger: Der Rettungsdienst fährt immer öfter Einsätze, in denen kein Notfall vorliegt. Wie gegenwirken?

Winfried Plötze: Das ist komplex, die Frage lässt sich nicht einfach beantworten. Es gibt viele Faktoren. Ich bin auf einem Rettungswagen mitgefahren, habe Gespräche mit Notfallsanitätern, Notärzten und Klinikärzten geführt. Die Fehleinsätze sind immer eines der Hauptthemen, mit unterschiedlichen Erklärungsansätzen. Einer ist, dass der ein oder andere keinen Termin beim Arzt bekommt und etwas ungeduldig ist und bei der 116117 sein Glück versucht. Deren Erreichbarkeit ist aber auch nicht optimal. Dann ruft man eben aus Ungeduld und Unsicherheit doch die 112.

Also was tun?

Die Gesundheitskompetenz in der Gesellschaft muss gestärkt werden. Menschen müssen einschätzen können: Ist das etwas, das ich selbst behandeln kann, oder ist es ein Notfall?

Ist die Anspruchshaltung eine andere?

Wir haben das Bild geschaffen, dass die medizinische Versorgung immer zu 100 Prozent verfügbar ist. Wir sind in Deutschland Weltmeister, was die Zahl der Arztkontakte angeht. Wir haben ein Anspruchslevel geschaffen, das der ein oder andere ausnutzt. Oder es vielleicht nicht besser weiß.

Also früh ansetzen, etwa an Schulen.

J a, absolut. Auch wenn ich nachvollziehen kann, dass sich die Schulen fragen, was sie noch alles vermitteln sollen. Doch es ist Wissen verloren gegangen. Darüber, wie man sich selber helfen kann, wann ein Arzt aufgesucht werden sollte, was ein Notfall ist und was nicht. In den Bildungsplänen könnte das stärker verankert werden.

Also wissen zu viele Menschen nicht, wie unser Gesundheitssystem aufgebaut ist?

Ich denke es gibt viele Menschen, die nicht wissen, dass das Krankenhaus überwiegend für die stationäre Versorgung zuständig ist. Wir müssen über unser System aufklären. Gerade Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Die Gesundheitssysteme unterscheiden sich, auch in der EU. Es ist wichtig, zu erklären, wie unseres funktioniert, da ist durchaus ein Bildungsauftrag mitgegeben.

Nun gibt es aber auch Menschen, die zwischen Wehwehchen und Notfall unterscheiden können. Doch der Hausarzt hat zu, bei der 116117 kommt man nicht durch, im Internet steht, die Bereitschaftspraxen sind alle geschlossen. Also wählt man doch irgendwann die 112.

Das ist leider richtig. Und diesen Missstand zu beheben, darauf zielt die Reform der Notfallversorgung ab. Sie ist überfällig. Jens Spahn hatte schon im Jahr 2017 den Versuch unternommen und ein Positionspapier dazu vorgelegt. Aber das wurde leider von den Ländern einstimmig abgelehnt. Deshalb hoffe ich, dass die Notfallreform jetzt kommt. Denn sie würde auch die Leitstellen stärken.

War es ein Fehler, dass die 116117 aus den Leitstellen genommen wurde?

Ja, das haben wir damals als Krankenkassen auch artikuliert, und es zeigt sich, dass die Erreichbarkeit tatsächlich nicht gut ist. Der ärztliche Bereitschaftsdienst muss gestärkt werden und auch die Transparenz, welcher Arzt wann erreichbar ist. Und wenn die Leitstellen an den Bereitschaftsarzt verweisen, muss sichergestellt sein, dass der auch Zeit hat. Alle Akteure müssen mitspielen.

Das neue Rettungsdienstgesetz unterscheidet nun stärker nach Einsatzarten. Kann das den Rettungsdienst entlasten?

Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch was die Hilfsfrist angeht, die nun Planungsfrist heißt. Das ist gut so, denn es handelt sich tatsächlich auch um eine planerische Sollgröße. Auch die Abstufung der Einsatzarten begrüße ich. Die Rettungsdienste berichten, dass 60 bis 70 Prozent der Transporte keine Notfälle sind. Mit dem neuen Rettungsdienstgesetz soll auch die Zahl dieser Fehleinsätze reduziert werden.

Das Gesundheitssystem krankt, es klang schon an. Hätte beim Rettungsdienstgesetz die Krankenhausversorgung stärker mitgedacht werden müssen?

Das fordern wir seit Jahren. Denn wenn die Landeskrankenhausplanung neu gestaltet wird, hat das auch Auswirkungen auf die Rettungsdienststandorte. Es braucht eine stärkere Verzahnung.

Und auf Bundesebene?

Auf Bundesebene gilt das gleiche, aber wir vermuten, dass die Krankenhausreform schon so ein dickes Brett ist, das man die zuerst angeht. Inhaltlich aber würde es Sinn machen, die Reform der Notfallversorgung mit anzugehen. Aber wir sind zuversichtlich, dass auch die Reform der Notfallversorgung durchs Parlament kommen wird.

Auch die Notfallversorgung muss neu strukturiert werden. Es gibt dazu eine Studie vom Barmer Institut für Gesundheitsforschung.

J a. Mit unserer Analyse wollten wir herausfinden, wo die Probleme liegen und sie transparent machen. Es hat die politische Forderung gestärkt, dass wir eben diese banalen Fälle, die keine Notfälle sind, raushalten müssen. Wir haben rund zwei Millionen Krankenhausfälle untersucht und wir sehen, dass der Rettungsdienst zu oft bei leichten Beschwerden ausrückt. Mit Ausnahme von Krankentransporten erfolgte demnach fast jeder dritte Rettungsdiensteinsatz bei Fällen mit niedrigem oder moderatem Schweregrad. Das waren demnach keine Notfälle. Viele davon kamen aus Pflegeheimen, etwa mit einem entgleisten Blutdruck. Da stellt sich die Frage: Warum müssen sie damit ins Krankenhaus? Auch gut ausgebildete Pflegefachkräfte könnten das behandeln. Die Ausgaben der Krankenkassen für den Rettungsdienst steigen seit Jahren. Das hat auch schon der Bundesrechnungshof kritisiert. Wenn wir unnötige Einsätze vermeiden, dann entlasten wir den Rettungsdienst und die Beitragszahler. Unser Gutachten unterstreicht das und betont die Notwendigkeit einer Reform.

Können Telenotärzte und der digitale Versorgungsnachweis Rettungsdienste und Kliniken entlasten? Auch die sind im neuen Gesetz verankert.

Jedes Monitoring ist eine Chance. Es hat Vorteile, wenn von unterwegs schon die Klinik zugeschaltet und die Operation vorbereitet werden kann. Da haben wir uns nur gefragt, warum das nicht schneller geht. Der digitale Versorgungsnachweis ist wichtig. Wir haben immer gefordert, IVENA eHealth einzusetzen. Das ist ein interdisziplinärer Versorgungsnachweis, über den Diagnosen, Behandlungsdringlichkeit und -möglichkeit in Echtzeit angezeigt werden.

Auch setzt das neue Rettungsdienstgesetz auf eine stärkere digitale Einbindung von ehrenamtlichen Ersthelfern, auch per App.

Das Einbinden von ehrenamtlichen Ersthelfern ist mindestens genauso wichtig wie die Debatte darüber, ob der Rettungswagen in zehn oder zwölf Minuten vor Ort sein muss. Denn sie müssen die Zeit bis zum Eintreffen der Rettungskräfte überbrücken.

Das Gespräch führte Jennifer Reich

Mehr zum Thema: Rettungsdienst: Im Einsatz denkt niemand an die Hilfsfristen | Staatsanzeiger BW

Die vorhandenen Qualifikationen nutzen

Winfried Plötze findet, dass man auch in der Pflege darüber nachdenken muss, den Fachkräften mehr Kompetenzen zuzugestehen, auch um unnötige Rettungsdiensteinsätze und Einweisungen ins Krankenhaus zu vermeiden. Nicht alles müsse ein Arzt oder eine Ärztin machen. „Wir haben eine große Zahl gut qualifizierter Fachkräfte, die vor Ort auch befähigt werden sollten, zu helfen.“ Er verweist auf das Beispiel der Notfallsanitäter. „Wie viele Jahre haben wir gestritten, bis die Notfallsanitäter machen durften, wofür sie ausgebildet wurden?“ Ähnlich verhalte es sich nun mit den Pflegefachkräften. Auch sie könnten mehr, als sie dürfen.

Nutzen Sie die Vorteile unseres

Premium-Abos. Lesen Sie alle Artikel aus Print und Online für

0 € 4 Wochen / danach 189 € jährlich Nachrichten aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung in Baden-Württemberg Jetzt abonnieren

Lesen Sie auch