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Was Friedrichshafener dazu bewegt, in ein Kriegsgebiet zu reisen
Friedrichshafen/Horishni Plavni. Es ist schon die 13. Fahrt, die Werner Nuber kurz vor Weihnachten mit vielen Hilfsgütern in Richtung Ukraine unternimmt. Doch diesmal ist alles anders. Nach zwölf privaten Hilfsreisen stoppt der Transporter nicht an der polnischen Grenzstation, um die Fracht zu übergeben. Die Fahrt geht diesmal weiter, fast 1000 Kilometer quer durch die Ukraine gen Osten bis nach Horishni Plavni. Eine Stadt mit rund 50 000 Einwohnern, fast genauso groß wie Friedrichshafen am Bodensee, wo Nuber die letzten fünf Jahre für die SPD im Gemeinderat saß.
Eine Stadt, die vom russischen Angriffskrieg gezeichnet ist, auch wenn die Frontlinie aktuell gut 150 Kilometer entfernt verläuft. „Jede Nacht Luftalarm macht was mit einem“, sagt er leise. Auch wenn die Drohnen bislang immer über die Stadt hinweg in Richtung Kiew flogen, um die Geschosse in der Hauptstadt der Ukraine abzuladen.
Werner Nuber ist Vorsitzender des im Sommer vergangenen Jahres gegründeten Vereins „Brücke nach Horishni Plavni“, der inzwischen schon gut 60 Mitglieder hat. Im Vorfeld entschied der Gemeinderat auf Antrag dreier Fraktionen, eine Solidarpartnerschaft mit der ukrainischen Stadt einzugehen – als Zeichen der Mitmenschlichkeit und Solidarität. Dabei geht es um die zielgerichtete und bedarfsorientierte Unterstützung von Kommunen. Städte und Gemeinden können dafür die Hilfe der „Servicestelle Kommunen in der Einen Welt“ (SKEW) nutzen.
Die beiden Städte verbindet eine Niederlassung der Zeppelin GmbH
Dass die Wahl auf Horishni Plavni am Fluss Dnjepr fiel und nicht etwa auf eine Stadt am Schwarzen Meer, liegt daran, dass hier die Zeppelin GmbH seit 20 Jahren eine große Niederlassung hat, es damit bereits eine Verbindung nach Friedrichshafen gibt.
Peter Gerstmann, bis Ende 2024 Vorstandsvorsitzender des Stiftungsunternehmens, engagiert sich persönlich und ist Vize-Vereinschef. Die Transporter für diese erste Hilfslieferung des Vereins hat Zeppelin gestellt. Schön ist die Stadt Horishni Plavni nicht. „Hier macht keiner Urlaub wie in unserer Partnerstadt Imperia“, erklärt Nuber. Die Stadt lebt vom Eisenerzabbau in der größten Tagebaumine Europas. Eigentlich.
Denn seit Kriegsausbruch gibt es nicht mehr genügend Arbeitskräfte. Nach dem Krieg wird die Stadt auch für den Wiederaufbau Bedeutung haben. Ein Grund mehr, warum sich die Zeppelinstadt, die im Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen komplett zerstört war, verbunden fühlt. „Wir wollen und können heute helfen, ganz direkt. Was sich später daraus entwickelt, werden wir sehen“, erklärt der Vereinsvorsitzende schlicht.
Unterstützung beim Start und bei den Vorbereitungen für die erste Hilfsfahrt gab es nicht nur von der ukrainischen Wohltätigkeitsstiftung „Im Namen des Sieges“, die bei vielen Formalitäten half, so Nuber. Der Gemeinderat befürwortete eine 50-Prozent-Stelle im Rathaus, um den Aufbau der Solidarpartnerschaft auch personell zu unterstützen. Mit der Ukrainerin Maria Sydorchuk wisse der Verein „eine äußerst engagierte Partnerin an unserer Seite“.
Bereits im September besuchte eine Delegation aus Horishni Plavni mit Bürgermeister Dmytro Bykov an der Spitze im September Friedrichshafen, um die Solidarpartnerschaft zu besiegeln. Bei diesen Gesprächen sei schnell klar geworden, wo konkret Hilfe gebraucht wird, erzählt Werner Nuber. Nur Wochen später waren 57 Weihnachtspakete für Waisenkinder gepackt, die mindestens ein Elternteil im Krieg verloren haben. Neben 100 Schutzausrüstungen für Feuerwehrleute hatte der Chefarzt der Frauenklinik in Friedrichshafen, Hans-Walter Vollert, einmal mehr auf Spendenbasis medizinisches Material organisiert, das im örtlichen Krankenhaus der ukrainischen Partnerschaft dringend gebraucht wird.
Und so starten fünf Vereinsmitglieder am 4. Dezember mit zwei vollbeladenen Transportern die erste Hilfsfahrt des Vereins ins 2300 Kilometer entfernte Horishni Plavni. Eine Reise, die wohl keinem der Vereinsmitglieder wieder aus dem Kopf geht.
Neben Werner Nuber sind Florian Nägele, Jürgen Schipek, Hubert Sauter und Übersetzerin Iryna Sandaliuk dabei. Die Zeichen des Krieges seien überall zu sehen, auch dort, wo es keine zerstörten Gebäude oder Bombentrichter gibt, erzählt Werner Nuber. In einem Städtchen in der Zentralukraine standen am Straßenrand die Porträts von 99 teils sehr jungen Männern, die im Krieg gefallen waren. „Wir müssen weinen“, steht nüchtern im Online-Reisetagebuch der Gruppe. 200 Kilometer nördlich von Odessa erreicht sie erstmals eine Meldung vom Luftalarm dort. Der Krieg war plötzlich sehr nahe.
Doch auch überbordende Gastfreundschaft begegnete der Gruppe schon auf dem Weg gen Osten. Werner Nuber berichtet vom Zwischenstopp in einem Restaurant, wo kurz zuvor eine Beerdigungsfeier geendet hatte. „Die Tische waren noch brechend voll mit ukrainischen Leckereien. Dann wurden wir eingeladen, zu Ente und Fisch, Borsch-Suppe und Maissalat.“ Neben der Fülle des Lebens und der Herzlichkeit der Menschen drängte sich deren kaum zu ertragendes Leid.
In Horishni Plavni seien sie wie Staatsgäste empfangen worden, auch vom Fernsehen. „Wir wurden wie eine offizielle Delegation der Stadt hofiert, so groß war die Wertschätzung, dass wir tatsächlich gekommen sind“, erzählt Werner Nuber. Bei der Übergabe der Hilfsgüter blieb es nicht. Bürgermeister und Rathausspitze nahmen sich zwei Tage Zeit, um den Gästen zu zeigen und zu erklären, mit welchen Herausforderungen die Menschen zu kämpfen haben.
Die Stadt hat rund 8000 Kriegsflüchtlinge aufgenommen, die verarmt sind und versorgt werden müssen. Etwa genauso viele Fachkräfte sind abgewandert oder mussten an die Front. Arbeit vor Ort gäbe es genug. Im Krankenhaus werden 60 Betten dauerhaft für verletzte Soldaten freigehalten. Viele Kriegsversehrte und deren Familien seien traumatisiert. Probleme, die der Verein – Hand in Hand mit dem Rathaus in Horishni Plavni – mit Projekten angehen will. „Die Stadt will nicht warten, bis der Krieg zu Ende ist“, so Nuber.
So engagiert sich Jürgen Schipek, der bis Ende 2023 Geschäftsführer der Städtischen Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshafen war und seither Chef der Kreisbau in Heidenheim ist, beim Aufbau neuer Strukturen für den dringend notwendigen kommunalen Wohnungsbau in der Ukraine. Etwa zehn Prozent Wohnungen sind als Folge des russischen Angriffkriegs zerstört oder beschädigt, so die Schätzungen der Initiative Wohnungswirtschaft Osteuropa (IWO). Weitaus mehr sind sanierungsbedürftig, weil jahrzehntelang nicht investiert wurde. Dazu komme der Bedarf für Binnenflüchtlinge. Rund eine halbe Million bezahlbare Mietwohnungen würden insgesamt gebraucht.
In der Häfler Partnerstadt soll ein Pilotprojekt für den Bau eines neuen Stadtteils mit Tausenden Wohnungen starten, unterstützt mit Geldern der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die im Auftrag der Bundesregierung mehr als 170 Millionen Euro für die Schaffung von Wohnraum vor allem für Binnenflüchtlinge in der Ukraine bereitstellt. Auch die EU möchte mit einer Kombination aus Zuschüssen und Darlehen Wohnungsbauprojekte unterstützen. „Dafür müssen aber erst Empfängerstrukturen geschaffen werden“, erklärt Jürgen Schipek, der mit der Rathausspitze in Horishni Plavni dazu bereits im Austausch war. Denn kommunale Wohnungsunternehmen gibt es in der Ukraine nicht, genauso wenig wie Erfahrungen bei der Vermietung von Wohnungen. „Da betreten die Städte völliges Neuland. Wir helfen beim systemischen Ansatz, die nötigen Strukturen dafür aufzubauen“, so Schipek, der beispielsweise an eine Managementpartnerschaft zwischen deutschen und neu zu gründenden Wohnungsunternehmen in der Ukraine denkt.
Hilfe soll es aber auch konkret von Mensch zu Mensch geben. Zwei Psychologen aus Friedrichshafen, die Stadträtin Dagmar Hoehne und Matthias Krüger von der Psychiatrischen Tagesklinik, wollen bei der Versorgung von Traumapatienten helfen. Ein Künstler-Projekt ist in Planung, weil die Menschen in Horishni Plavni „auch was für die Seele brauchen“, sagt Werner Nuber. Und über die Ludwig-Dürr-Schule soll ein Schüleraustausch angekurbelt werden, wenn auch vorerst nur einseitig.
Der Verein denkt bereits an den nächsten Hilfstransport
Was der Krieg mit den Menschen macht, hätten sie in vielen Gesprächen erfahren, nicht nur mit den Funktionären, sagt Werner Nuber. „Sie wollen Frieden, aber nicht um jeden Preis. Schon gar nicht unter den Russen“, sagt er. So habe Bürgermeister Dmytro Bykov klar formuliert, dass er Russe ist und erst am 24. Februar 2022, als Putins Truppen in der Ukraine einmarschiert sind, zum Ukrainer geworden sei. Die Angst sei da, dass die Stadt östlich des Dnjeprs mit der riesigen Eisenerzmine vor der Haustür von den Russen beansprucht werden könnte, wenn es zu Verhandlungen kommt.
Was Bedrohung bedeutet, bekommt die Gruppe auf der Rückfahrt noch intensiver zu spüren. Um die Abgabe von Hilfsgütern per Stempel und Unterschrift zu bestätigen, geht die Reise diesmal direkt durch Kiew, um den Vertreter der Stiftung zu treffen. Auf fast jeder Brücke sind dort Soldaten für die Luftabwehr postiert. Einen Luftalarm erleben die Friedrichshafener hautnah mit. Wohl wissend, dass es jederzeit Einschläge geben kann. „Es ist ein fürchterliches Gefühl“, sagt Werner Nuber.
Inzwischen plant die „Brücke nach Horishni Plavni“ bereits den nächsten Hilfstransport, wobei Werner Nuber lieber den Begriff „vordenken“ nutzt. Denn wie sich der Krieg entwickelt, lässt sich schwer vorhersagen. Und doch wäre der 26. April, wenn die neue Partnerstadt ihren Geburtstag feiert, das ideale Datum, um wieder dort zu sein.
Ukrainer auf der Flucht
Bis Dezember 2024 waren laut Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen rund 45 Millionen Ukrainer aufgrund des Krieges ins Ausland geflohen, während 38 Millionen Rückkehrbewegungen registriert wurden. Mit 1,24 Millionen registrierter Flüchtlinge hat Deutschland die meisten Menschen aus der Ukraine aufgenommen – die höchste Zahl in Europa, wo etwa 6,3 Millionen Ukrainer Schutz gefunden haben. Zwischen vier und sieben Millionen Menschen sind nach internationalen Schätzungen innerhalb der Ukraine auf der Flucht.