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Grünes Wien und der Stolz der Wiener Grünen
Wien. Wer aus politischem Anlass die österreichische Hauptstadt besucht, läuft Gefahr, die immer selben Themen abzuarbeiten, vom Wohnungsbau bis zum Öffentlichen Personennahverkehr. Diesmal wollen die grünen Gäste aus Baden-Württemberg mehr: auch erfahren, wie der Kampf gegen die Erderwärmung wieder positiv besetzt werden kann.
„Eigentlich hasse ich den Ausdruck Klimaschutz“, gesteht Alexander van der Bellen, „denn wir schützen nicht das Klima, wir schützen uns.“ Gerade ist der achte Austrian Summit, die größte internationale Klimakonferenz in Wien, über die Bühne gegangen, jetzt empfängt der Bundespräsident Winfried Kretschmann. Die beiden Grünen kennen sich lange. Ihre Anliegen sind kongruent, die Stimmung ist es keineswegs.
Corona hat das Mobilitätsverhalten verändert, die Stadt reagiert
Grüne Themen haben in der Zwei-Millionen-Einwohner-Metropole durchaus Konjunktur: im Straßenbild, wenn auf elektronischen Anzeigetafeln mitgeteilt wird, wie viele Radler unterwegs sind, wie viel CO 2 sie einsparen, in der TV-Werbung von Lebensmittelkonzernen („Gut fürs Klima, gut für uns“) und beim Treffen mit Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne), wenn die Amtskollegin Ulli Sima (SPÖ) von den Investitionen in neue Fahrradstraßen schwärmt.
Corona habe das Mobilitätsverhalten verändert, sagt sie, und darauf reagiere die Stadt. Seit Beginn 2020 habe das Land über 75 Millionen Euro in die Radverkehrsinfrastruktur investiert, 48 Kilometer sind gebaut, 20 kommen allein im laufenden Jahr dazu. Auf seiner Tour kann sich Hermann vom verzweigten Netz überzeugen und davon, dass entlang der neuen Strecken auch Bäume gepflanzt und Flächen entsiegelt werden, um für zusätzlichen Grünraum zu sorgen. Er hat Handy-Fotos gemacht, mit denen er demnächst daheim zeigen will, was alles geht.
Sima gehört zum roten Adel. Ihr Großvater war nach 1945 einer der Wiedergründer der Partei und Landeshauptmann (Ministerpräsident) in Kärnten. Während ihrer Studienzeit war sie bei den Grünen aktiv. Sie setzt auf Entideologisierung, darauf, dass das Notwendige geschieht. „Ich suche den Konsens“, sagt sie. Die seit 2020 oppositionellen Grünen im Gemeinderat, der zugleich Landesparlament ist, finden, sie könnte die Vorarbeit durch die grüne Vorgängerin stärker betonen.
Grundsatzstreitigkeiten wie in der Ampel in Berlin oder – bei Umweltthemen – in der grün-schwarzen Landesregierung daheim in Stuttgart gibt es hier aber nicht. Die Grünen können zudem eigene „sehr erfolgreiche Aktionen“ präsentieren, wie etwa das Werben dafür, alle 500 Plätze vor Schulen von Verkehr und Staus zu befreien, neu zu bepflanzen und klimafit zu machen. Das Programm sei besonders beliebt. Der Gast aus Baden-Württemberg hört höchst interessiert zu, weil er selber an eine Änderung des Straßenverkehrsgesetzes denkt.
Eltern, Kinder, Lehrkräfte und Anwohner sind nicht nur mit Verkehrsberuhigungen vor Schulen einverstanden oder jedenfalls mehrheitlich von Bepflanzungen. Vor allen einschlägigen Projekten finden in den jeweiligen Bezirken Bürgerbeteiligungen statt, mehr als 80 Prozent der Wiener und Wienerinnen sind für mehr Grün, sogar für mehr Radwege. Anwohner kämpfen durchaus auch um Parkplätze, die Mangelware sind, berichtet Sima. Weniger wird der Raum für Autos dennoch, weil das gesamte Stadtgebiet Kurzparkzone ist. Was hier nicht nur auf dem Papier steht, sondern ziemlich konsequent kontrolliert wird. Und damit nicht erst die Enkelgeneration in den Genuss von Veränderungen in Stadtbild und -klima kommt, werden sogenannte XL-Bäume mit vergleichsweise kleinen Wurzelballen verwendet. Die Botschaft, dass die deutlich teurer sind als andere, ist eine Erwähnung wert.
„Wien ist anders“ lautet der Slogan seit vielen Jahren. Die sogenannte Netto-Null, die in Deutschland die Gemüter politischer Akteure erhitzt, ist in keinem der Gespräche Thema, ebenso die Schuldenbremse.
Es gibt aber immer neue große und kleine Ideen, die vergleichsweise zügig umgesetzt werden, wie die kleine verschattete Sitzgruppen an Straßenecken, die sehr beliebten Sprühnebelduschen an heißen Plätzen, Wasserspiele, die ab 25 Grad Außentemperatur automatisch angehen. Vor dem Rathaus jubeln derzeit Fußball-Fans vor der riesigen Leinwand, die ab Ende Juni bis Anfang September auch genutzt wird für das allsommerliche Filmfestival mit cineastischen Leckerbissen – bei freiem Eintritt, versteht sich in einer Stadt, in der schon vor mehr als 100 Jahren Kinderfreibäder entstanden, der Begriff „frei“ aber nicht „ohne Dach“, sondern gratis bedeutet.
„Hier wird sehr viel Geld ausgegeben“, sagt der Stuttgarter Verkehrsminister, der dem Ministerpräsidenten vorausgereist ist, um mehr Zeit zum Austausch zu haben. Für Vorhaben, für die in der Bundesrepublik sehr viel weniger da ist. So stecken 700 Millionen Euro in 33 hochmodernen Liege- und Schlafwagen. Die Deutsche Bahn ist 2015 aus-, die Nachbarn sind eingestiegen.
„Wir wurden belächelt“, berichtet einer der Bahnexperten. Inzwischen befahren die ÖBB etliche mitteleuropäische Strecken bis Hamburg oder Venedig, Paris musste gerade vorübergehend aus dem Programm genommen werden, weil die DB die Nutzung bestimmter Streckenabschnitte nicht garantieren kann. Die Nachfrage hat die Erwartungen „bei Weitem übertroffen“, stellt die Vorständin Sabine Stock fest. Das Bewusstsein dafür, klimafreundlich unterwegs zu sein, wachse beständig. In den neuen Zügen wurden die früheren Liegewagen durch sechs Mini Cabins ersetzt: Privatsphäre und gutes ökologisches Gewissen auf kleinstem Raum.
Umweltministerin setzt Projekt auf eigene Verantwortung bei EU durch
Unter Grünen in Österreich herrscht drei Monate vor der nächsten Nationalratswahl Aufbruchstimmung. Die eigene Umweltministerin Leonore Gewessler hat das größte EU-Naturschutzvorhaben, das monatelang unter allen demokratischen Fraktionen ausverhandelte Renaturierungsgesetz, in Brüssel auf eigene Verantwortung durchgesetzt. „Das motiviert unheimlich“, berichten Parteifreunde stolz (siehe auch Kasten).
Winfried Hermann bleibt nur, das Spannungsfeld und den Frust zu beschreiben, zwischen berechtigten Ansprüchen von Umwelt-, Natur- oder Radfahrverbänden auf der einen Seite und dem Widerstand in anderen Parteien – „dabei haben wir so viele Probleme, die wir haben, weil im Bund 16 Jahre die CDU regiert hat“. Aber das sei eben überall in Vergessenheit geraten. Auf die wiederum setzt in ganz anderer Weise der Ministerpräsident mit Blick auf die eigenen Landtagswahlen 2026 und in der Hoffnung auf einen neuen Aufschwung ökologischer Themen: „In eineinhalb Jahren rennen ganz andere Säue durchs Dorf als heute, die Leute werden gar nicht mehr wissen, was wir heute debattieren.“