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Essay

Gesellschaftlicher Fortschritt braucht einen langen Atem

Warum Themen wie Gleichstellung und Antidiskriminierung in der grün-schwarzen Koalition stocken und warum das nicht so bleiben muss, erläutert Michael Schwarz in seinem Essay.

Unter CDU-Partei- und Fraktionschef Manuel Hagel (rechts) weht in der Koalition ein neuer Wind - und bisweilen dem grünen Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Mitte) direkt ins Gesicht. Vize-Regierungschef Thomas Strobl (links) ist in der CDU ins zweite Glied gewechselt.

dpa/Bernd Weißbrod)

Manchmal verschwinden wichtige Themen in der Versenkung, manchmal tauchen sie unvermittelt wieder auf, und oft braucht es einfach einen langen Atem, um in der Politik etwas zu erreichen. Das sei jenen gesagt, die jetzt enttäuscht sind, weil es vorläufig wohl nichts wird mit einem eigenen Antidiskriminierungsgesetz für Baden-Württemberg und weil eine umfassende Gleichstellungsstrategie auf sich warten lässt.

Vielleicht lohnt es sich, einmal innezuhalten und zu registrieren, was alles schon passiert ist. Eine Frau zu sein, bedeutet längst nicht mehr, auf Heim und Herd festgelegt zu sein wie noch in der 1950er-Jahren. Rechtlich ist die Gleichberechtigung seit den 1970er-Jahren weitgehend vollzogen. Und in der Lebenswirklichkeit hat sich – Gender-Pay-Gap hin und oder – auch eine Menge getan. Es mag immer noch zu wenig Männer geben, die Elternzeit nehmen – aber es gibt sie. Ähnlich sieht es mit Frauen in Führungspositionen aus.

Auch beim Thema Antidiskriminierung ist man zumindest ein bisschen weiter. Einmal war das Gesetz schon im Kabinett und die Verbändeanhörung ist auch schon durch. Im Moment allerdings, das zeigt auch die Bereitschaft der Grünen, diese im Koalitionsvertrag vereinbarten Themen hintanzustellen, haben Maßnahmen, die darauf abzielen, die Gesellschaft weiterzuentwickeln, keine Konjunktur. Das hat auch mit einem neuen Selbstverständnis des Partners zu tun: In der Union ist man ziemlich sicher, die nächsten Wahlen zu gewinnen.

Aus dieser Position scheint man sich nicht mehr an jeden Punkt des Koalitionsvertrags gebunden zu fühlen. Zumal, wenn es sich um eines jener zahlreichen Anliegen handelt, die die Christdemokraten 2021 klaglos schluckten, um den Gang in die Opposition zu verhindern.

Bei den Grünen wiederum glauben immer weniger, den nächsten Ministerpräsidenten zu stellen. Selbst wenn der Kandidat Cem Özdemir heißen sollte. Und ob es unter umgekehrten Vorzeichen nochmals zu einer Koalition mit den Schwarzen kommt, ist alles andere als gewiss. Die CDU hat schon angekündigt, ein Maximum an eigener Programmatik umsetzen zu wollen. Ob das die Grünen mit sich machen lassen, wird sich weisen. SPD und FDP jedenfalls stünden bereit.

Das heißt nicht, dass die Themen Gleichstellung der Geschlechter und Kampf gegen Diskriminierung tot sind. Doch vielleicht sollten sich die progressiven Kräfte auf einzelne, mehrheitsfähige Ziele konzentrieren. Dass man etwas gegen Altersarmut bei Frauen tun muss, ist vermutlich eher vermittelbar, als dass alle Menschen künftig gendern.

All dies spricht nicht gegen eine umfassende Gleichstellungsstrategie und ein eigenes Antidiskriminierungsgesetz für Baden-Württemberg. Es spricht aber dagegen, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Im Moment brennen andere Probleme unter den Nägeln – die Energiekosten, die wirtschaftliche Lage. Dazu kommt die ungelöste Flüchtlingsproblematik. Die Menschen bekommen Angst. Die Gefahr steigt, dass sie Rattenfängern hinterherlaufen.

In einer idealen Welt kann sich jeder, wie dies im grün-schwarzen Koalitionsvertrag steht, „ohne Ansehung seiner Person, seines sozialen Hintergrunds, seiner körperlichen Voraussetzungen und seines Geschlechts, seiner Religion, Hautfarbe oder Herkunft“ verwirklichen. In der realen Welt sind wir noch ein gutes Stück davon entfernt.

Schwierig wird es allerdings, wenn behauptet wird, dass es bei all dem um Bürokratieabbau geht, wie aus der Entlastungsallianz zu hören ist. Denn das würde ein seltsames Staatsverständnis offenbaren. Es kann ja wohl nicht sein, dass wir uns mit Ungerechtigkeiten zufriedengeben, weil die Gerechtigkeit mit Regeln und deren Einhaltung verbunden wäre. Dann kann sich der Staat auch gleich selbst abschaffen.

Doch vermutlich ist das auch nicht so gemeint. Es geht eher darum, eine Ausrede dafür zu präsentieren, dass schon wieder ein Punkt aus dem Koalitionsvertrag wackelt. Eigentlich steht dort nämlich auch, dass die Grünen den Ministerpräsidenten stellen. Der Name des Ministerpräsidenten steht dort nicht, woraus man folgern kann – aber vielleicht nicht muss –, dass die CDU bereit wäre, einen möglichen Nachfolger von Winfried Kretschmann mitzuwählen. Schnee von gestern: Manuel Hagel, der neue starke Mann der CDU, hat diesen Fall vor einem Jahr explizit ausgeschlossen. Man ist in der Politik eben nie vor Überraschungen gefeit. Und manchmal muss man auf günstige Winde warten.

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