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Herrenberger Gespräche

Muhterem Aras bei den Herrenberger Gesprächen: „Es geht nicht alles den Bach runter“

Doch: Die Demokratie ist noch zu retten, ihre Gegner haben nicht gewonnen – wenn man die Wähler und ihre Sorgen ernst nimmt und eine hoffnungsvolle Erzählung dagegensetzt. Das ist das Fazit der dritten Auflage der Staatsanzeiger-Gesprächsreihe, dieses Mal unter anderem mit der Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne).

Landtagspräsidentin Muhterem Aras hält in Herrenberg ein flammendes Plädoyer für Freiheit und Demokratie.

Achim Zweygarth)

Herrenberg. Ist Herrenberg eine Insel der Seligen? Ein Ort, an dem die AfD keinen Fuß auf dem Boden bekommt? Wo die Menschen noch gemeinsam gegen das Unheil marschieren, das von Rechtsaußen droht? Nico Reith jedenfalls, seit Anfang des Jahres parteiloser Oberbürgermeister der 33 000-Einwohner-Stadt im Oberen Gäu, hatte bei der dritten Auflage der „Herrenberger Gespräche“ am Dienstagabend in mehrfacher Hinsicht ein Heimspiel.

Zum einen hatte er die kürzeste Anreise – sein Rathaus ist vom evangelischen Gemeindehaus, wo die Veranstaltung stattfand, nur ein paar Minuten entfernt. Zum anderen kann er mit gewissem Recht behaupten, dass Herrenberg seine Hausaufgaben gemacht hat. Man habe die AfD im Gemeinderat inhaltlich gestellt. Und bei der Kommunalwahl im Juni hätten die Rechtspopulisten auch noch ihren einzigen Sitz im Kommunalparlament verloren. Was ebenso ungewöhnlich sei für eine Große Kreisstadt wie die hohe Mobilisierung beim Marsch gegen Rechts als Reaktion auf das Potsdamer Treffen.

Landtagspräsidentin ruft dazu auf, den Kopf nicht hängen zu lassen

Leise Zweifel sind erlaubt. Immerhin hat es ein Herrenberger AfD-Mitglied in den Kreistag geschafft. Und Kneipen, in denen rechte Gesinnung verbreitet wird, scheint es auch hier zu geben. Zumindest berichtete dies Caroline van Monsjou, Grünen-Kreisrätin aus Herrenberg, die bei der Veranstaltung, die diesmal unter dem Motto „Demokratie in Gefahr?!“ stand, ein wenig Wasser in den Wein des Oberbürgermeisters goss.

Angefangen hatte der Abend mit einem flammenden Plädoyer für Demokratie und Freiheit. Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) warnte in ihrem Impulsreferat davor, die Köpfe hängen zu lassen. Zwar machten die Wahlergebnisse der AfD im Osten und die in Potsdam diskutierten Remigrationspläne betroffen. Doch jedem schwierigen Moment stehe auch einer gegenüber, der Hoffnung mache. So habe es Marine Le Pen in Frankreich nicht geschafft, an die Macht zu kommen, und auch Donald Trump könne in den USA noch scheitern.

Gleichzeitig warnt Aras davor, die Wahlentscheidung der AfD-Anhänger nicht ernstzunehmen. Die größte Lüge der Rechtspopulisten sei die vom Staatsversagen und davon, „dass alles nur noch den Bach runtergeht“. Dagegen will sie eine andere Erzählung stellen. „Wir sollten nicht griesgrämig durch die Gegend laufen, sondern auch einmal dankbar sein, in welchem Land wir leben“, wünscht sich die Parlamentspräsidentin.

Auch in der anschließenden Podiumsdiskussion wurde Aras sehr deutlich. Sie erinnerte daran, dass der ehemalige AfD-Fraktionsvize und heutige Landesvorsitzende Emil Sänze ihr abgesprochen hatte, in seinem Namen zu sprechen, wenn es um die Erinnerung an den Holocaust geht, nur weil sie kurdisch-alevitische Wurzeln hat. „Das ist Rassismus“, sagte sie und dass die Rechtspopulisten das Staatsvolk in Deutsche erster und zweiter Klasse einteilten, je nachdem, ob einer einen Migrationshintergrund habe oder nicht. Gleichzeitig pries Aras die Vorzüge der Demokratie: Als sie als Zwölfjährige nach Deutschland kam, habe sie erst lernen müssen, dass hier Dinge erlaubt sind, die in der Türkei unter Strafe standen, etwa ihre Muttersprache Kurdisch zu sprechen und ihren alevitischen Glauben zu praktizieren.

In der Weimarer Republik stand es noch schlimmer um die Demokratie

All diese Vorzüge der liberalen Demokratie könnten ins Wanken geraten. Diese Befürchtung wurde in der Debatte deutlich, die von Rafael Binkowski, Chefredakteur des Staatsanzeigers, und Carsten Beneke vom Haus der Diakonie in Herrenberg moderiert wurde. Allerdings ist die Situation mit der vor 100 Jahren nicht vergleichbar: Diese Ansicht vertrat Wolfram Pyta, Historiker an der Uni Stuttgart. Der ausgewiesene Experte für die Weimarer Republik verwies darauf, dass die staatlichen Institutionen anders als damals etwa der Reichspräsident Paul von Hindenburg auf Seiten der Demokratie stünden. Und die Eliten ebenfalls. Außerdem sei die physische Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung geächtet, während seinerzeit sowohl die Nazis als auch die Kommunisten nicht davor zurückschreckten.

Mehr Hoffnung als Angst verbreiteten auch die anderen Podiumsteilnehmer. Konsens war dabei – und auch unter den meisten der 140 Besucher –, dass es den Menschen in Deutschland gar nicht so schlecht geht, jedenfalls, wenn man ihre Lebenssituation mit der in anderen Regionen vergleicht. Und dass jede und jeder dazu aufgerufen sei, diese Botschaft zu teilen – auch, um Menschen zu erreichen, die kein rechtsextremistisches Weltbild haben, aber aus Frust AfD wählen.

Erreichen könne man das zum Beispiel, indem man dort aktiv werde, wo sich nicht nur die Rechten, sondern auch die Jugend tummelt. Deshalb sei Herrenberg in den sozialen Medien aktiv, sagte Oberbürgermeister Reith und pries sein Konzept der „Stadt-Influencer“. Volker Steinbrecher vom Diakonisches Werk Württemberg warb für mehr parteiübergreifenden Konsens in zentralen politischen Fragen. Mit dem Wissen um die eigenen Grenzen sei es einfacher, auf anderen zuzugehen.

Gesprächsreihe

Die „Herrenberger Gespräche“ sind eine Initiative des Staatsanzeigers, des Evangelischen Diakonieverbands im Kreis Böblingen, der evangelischen und der katholischen Kirchengemeinde Herrenberg. Bei der Erstauflage ging es im November 2023 um den Terror der Hamas, im März 2024 wurde über Antisemitismus diskutiert und an diesem Dienstag über Demokratie in Gefahr. Die vierte Veranstaltung soll im Mai 2025 stattfinden. Das Thema steht noch nicht fest.

Auf dem Podium diskutieren (v.l.n.r.) der Historiker Wolfram Pyta, die Landtagspräsidentin Muhterem Aras, Carsten Beneke vom Haus der Diakonie, Rafael Binkowski, Chefredakteur des Staatsanzeigers, Volker Steinbrecher vom Diakonisches Werk und OB Nico Reith. Foto: Achim Zweygarth

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