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Kinder- und Jugendkriminalität 

Kriminalitätsstatistik: Experten plädieren für mehr Jugendhilfe statt Jugenstrafen

Die aktuelle Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) zeigt, dass gerade unter Kindern die Gewaltkriminalität zunimmt. Bei einem Fachgespräch der Grünen im Landtag warnten Experten aber vor Alarmismus - und vor einer Absenkung der Altersgrenze für die Strafmündigkeit. 

Die Zahl der tatverdächtigen Kinder steigt bei Körperverletzungen an. Experten warnen aber vor einer Dramatisierung der Zahlen.

Thomas Koehler/photothek.net)

Wie entwickelt sich die Gewaltkriminalität unter jungen Menschen?

Die Zahl tatverdächtiger Jugendlicher ist – ohne ausländerrechtliche Verstöße – um 7,8 Prozent auf 48 573 gesunken (siehe Grafik). Bei der Gewaltkriminalität ist ein Anstieg zu verzeichnen – um 8,3 Prozent auf 6705 Tatverdächtige, auffallend sind nach der Statistik vor allem Kinder und Jugendliche. Auffällig ist auch, dass sich Gruppen, über alle Altersklassen hinweg, lose zusammenschließen und spontan Straftaten begehen. Animiert etwa über soziale Netzwerke.

In welchen Deliktsbereichen fallen Kinder besonders auf?

Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die einer Körperverletzung verdächtigt werden, steigt. Über 60 Prozent der 11 660 Tatverdächtigen begingen eine leichte oder einfache Körperverletzung. Dabei verzeichnen Kinder und Jugendliche mit einer Zunahme um 10,3 Prozent und 11,8 Prozent die höchsten Anstiege. Bei der gefährlichen und schweren Körperverletzung nehmen Tatverdächtige im Kindesalter um 19,5 Prozent zu; bei den Jugendlichen stieg der Anteil auf 6,8 Prozent. Im Bereich Mord und Totschlag zeigt sich ein Anstieg um 29,3 Prozent bei unter 21-Jährigen. Bernd Holthusen vom Deutschen Jugendinstitut München warnte am Mittwoch dennoch vor Alarmismus und warb für einen sachlichen Diskurs. Blicke man auf die langfristige Entwicklung der Zahlen, sei der Anstieg nicht so dramatisch, wie oft dargestellt. Auch wenn man die Entwicklung von Gewalttaten gerade bei Mehrfachtätern im Kindesalter aufmerksam verfolgen müsse.

Welche besondere Herausforderungen stellen junge Straftäter?

Das Jugendgerichtsgesetz (JGG) enthält für die Verurteilung von Jugendlichen und Heranwachsenden besondere Vorschriften. Erziehung und Wiedereingliederung stehen im Vordergrund. Interdisziplinäre Netzwerke seien, so heißt es in der PKS, zu stärken. Es gelte, durch ein besseres Verständnis und gezielte Maßnahmen die Ursachen anzugehen. Jugendkriminalität sollte nicht als Problem abgetan, sondern als gesamtgesellschaftliche Herausforderung betrachtet werden. Dies unterstrich Katja Fritsche, Leiterin der Justizvollzugsanstalt (JVA) Adelsheim, am Mittwoch. Sie sprach sich für die Stärkung der Häuser des Jugendrechts aus. Die multiplen Probleme und Defizite bei den jungen Menschen erforderten Interdisziplinarität, es brauche mehr Jugendhilfe, statt Jugendstrafe. Aus ihrer Zeit als Jugendrichterin könne sie berichten, dass die Häuser des Jugendrechts gut funktionieren. Diese brauche es flächendeckend.

Welche Hilfe gibt es für junge Menschen, die straffällig werden?

Daniela Kund leitet die Kinder- und Jugendhilfe in Stuttgart. Ihr zufolge gibt es mit dem achten Sozialgesetzbuch und dem JGG „wunderbare Gesetze, die vielfältige Reaktionen auf Jugendkriminalität ermöglichen“. Eine „One-fits-all-Lösung“ gebe es nicht, es brauche individuelle, passgenaue Lösungen. Wird ein junger Mensch straffällig, werde stets die Jugendhilfe eingebunden, es stehe ihnen immer ein Ansprechpartner zur Verfügung, der jeden Schritt begleite. „Wer etwas gegen Jugendkriminalität machen will, sollte die Jugendämter und die freie Jugendhilfe stärken.“ Dafür sprach sich auch Holthusen aus: Für einen fachgerechten und qualifizierten Umgang mit der Delinquenz brauche es bei der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch bei Polizei und Justiz ausreichend Ressourcen.

Braucht es mehr Strafen und ein Absenken der Altersgrenze für die Strafmündigkeit?

Justizministerin Marion Gentges (CDU) setzt sich dafür ein, die Strafmündigkeit unter 14 Jahren in den Blick zu nehmen. Sie will wissenschaftlich untersuchen lassen, ob das Strafmündigkeitsalter korrigiert werden muss. Fritsche dagegen ist überzeugt, dass dies nicht notwendig ist, es „wäre grober Unfug“ die Altersgrenze herabzusetzen. Und doch müsse jedes Fehlverhalten beachtet werden und Konsequenzen haben. „Es sollte als allerletztes das Gefängnis kommen und nicht als erstes.“

Auch wenn eine Gefängnisstrafe in manchen Fällen alternativlos sei, plädiert Wolfgang Stelly, Kriminologe an der JVA Adelsheim, dafür, zu berücksichtigen, dass Gefängnisstrafen für junge Strafgefangene häufig keine große Abschreckungswirkung hätten. Die hohen Rückfallzahlen zeigten auch, dass das Gefängnis kein gutes Resozialisierungsumfeld ist. „Ein Gefängnis ist kein guter Ort für junge Menschen, es ist kein guter Ort, an dem es Entwicklungsmöglichkeiten gibt“, sagt Stelly. „Es ist ein Ort, an dem großer Schaden bei jungen Menschen angerichtet werden kann.“

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