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Essay

Die Politik muss den Rahmen für Volksbegehren überdenken

Menschen mit berechtigten gesellschaftlichen Interessen dürfen nicht wie Petenten behandelt werden, findet Brigitte Johanna Henkel-Waidhofer. 

Ralf Kittel, Vertreter der Elterninitiative, hält im Innenministerium einen Umschlag mit einem Antrag auf Durchführung eines Volksbegehrens bezüglich des G9-Gesetzes in seinen Händen.

dpa/Christoph Schmidt)

Hans-Ulrich Sckerl, der Weinheimer Grüne der ersten Stunde und langjährige parlamentarischer Geschäftsführer der Landtagsfraktion, wollte sich mit einer zentralen Frage der direkten Demokratie nochmals befassen. Doch seit seinem Tod vor zwei Jahren verfolgt niemand mehr seine Forderung nach einer weiteren Verfassungsänderung zur Zulässigkeit von Volksbegehren.

Dabei wäre Nacharbeiten dringend geboten, jedenfalls wenn bei der Verabschiedung der neuen Volksgesetzgebung 2015, die demonstrative Zufriedenheit von Grünen, SPD, CDU und FDP mit den neuen Regeln für mehr engagierte Bürgerbeteiligung mehr als nur Show war.

Wie schon das SPD-Volksbegehren für gebührenfreie Kitas vor fünf Jahren hat der zuständige Innenminister Thomas Strobl (CDU) auch jenes zu G9 für verfassungswidrig erklärt. Die Begründungen ähneln sich, vor allem der Verweis auf „die erheblichen Kosten, die der Gesetzentwurf im Fall einer Zustimmung bei einer Volksabstimmung verursachen würde“. Strobl hat gute Chancen, dass auch diese Entscheidung vom Verfassungsgerichtshof bestätigt wird: Mit seinem zweiten Spruch zum heiklen Thema dürfte der den ersten nicht ab absurdum führen wollen.

Es geht um viel mehr als juristische Spitzfindigkeiten

Also sind abermals Politiker und Politikerinnen gefragt in einem Land, das selber durch einen Volksentscheid entstanden ist. Durch einen, dessen Abstimmungsverfahren übrigens nach einer Proberunde nochmals modifiziert wurde, um auch sicher zum neuen vereinigen Südweststaat zu kommen – aber das ist eine andere Geschichte. Heute, gut sechseinhalb Jahrzehnte später, müssen Weichen so gestellt werden, dass Menschen mit berechtigten gesellschaftlichen Interessen nicht wie Petenten behandeln werden, nicht nur, O-Ton Sckerl, „über Sonnenschein und Regen abstimmen dürfen“, und dass Winfried Kretschmanns „Politik des Gehörtwerdens“ auch finanzwirksam Pläne von Regierungen durchkreuzen kann. Oder Volksvertretungen müssten schlicht, einfach und ehrlich sagen: Wir wollen gar nicht, dass das Volk erfolgreich Eigenes und Einschneidendes begehrt.

Es geht um viel, auf jeden Fall um mehr als juristische Spitzfindigkeiten oder Nuancen für Feinschmecker, die sich an Fragen der Bürgerbeteiligung abarbeiten wollen. Dreh- und Angelpunkt ist Artikel 59 der Landesverfassung: „Über Abgabengesetze, Besoldungsgesetze und das Staatshaushaltsgesetz findet kein Volksbegehren statt“, steht da unter anderem zu lesen. Wird dieser Satz so eng ausgelegt wie in Baden-Württemberg, sind vom Volk vorangetriebene Eingriffe in bestehende Verhältnisse auf Landesebene kaum möglich, weil die kostenlosen – wenn überhaupt – nur mit der Lupe zu finden sind in der Geschichte der direkten Demokratie.

Gegensätzliche Auslegungen sind möglich

Das gegensätzliche Auslegungen möglich sind, zeigt der Blick auf andere Länder mit mehr Erfahrungen und ähnlichen oder praktisch gleichlautenden Verfassungspassagen, allen voran Sachsen. Dort hat der Verfassungsgerichtshof schon vor mehr als 20 Jahren das Volksbegehren „Zukunft braucht Schule“ trotz der damit verbundenen erheblichen Mehraufwendungen für zulässig erklärt, weil es „in der Logik der auf Sachfragen bezogenen Volksgesetzgebung liegt, dass sie materielle Vorgaben für den Haushaltsgesetzgeber schafft, anders ist Volksgesetzgebung angesichts der finanziellen Folgewirkungen nahezu aller Gesetze ernsthaft nicht denkbar“, schrieb das Gericht (Az 91-VI-01).

Und an anderer Stelle: „Es kann nicht angenommen werden, dem Verfassungsgeber seien diese durch einen Blick in andere Landesverfassungen leicht entschlüsselbaren Zusammenhänge unbekannt geblieben.“ Sogar etwaige Reibungsverluste, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen repräsentativer und direkter Demokratie „ergeben mögen, können nicht Anlass sein, das Volksgesetzgebungsverfahren interpretatorisch zurückzuschneiden im Interesse der ungestörten Funktion des parlamentarischen Regierungssystems“.

Der Ministerpräsident zitiert gern aus der 2500 Jahre alten Leichenrede des Perikles den sehr schönen Satz: „Nur bei uns ist ein stiller Bürger kein guter Bürger“. Die Stärke der Demokratie sei, so Kretschmann, dass sich Bürgerinnen und Bürger beteiligen, mitentscheiden. Wenn diese Aussagen mehr sind als schöne Sätze, müssen all jene, die die Verfassung 2015 geändert haben, sich 2024 ehrlich mit der Erweiterung des Rahmens für Volksbegehren im Südwesten befassen. Und mit Sckerls mahnendem Erbe, wenigstens Urteilsgründe genau zu analysieren, um in Zeiten des wachsenden Rechtspopulismus die notwendigen Schlüsse zu ziehen.

Mehr zum Thema: Elterninitiative klagt gegen Ablehnung von Volksbegehren | Staatsanzeiger BW

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