„Die Leute können die Dinge viel besser beurteilen, als wir denken“

Wäre Gisela Erler an ihrem 65. Geburtstag nicht ans Telefon gegangen, wäre es vielleicht nichts geworden mit der „Politik des Gehörtwerdens“. Das verriet der Ministerpräsident am Montag im Haus der Architekten und sagte der ehemaligen Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung „ein ganz großes Danke“.

Die ehemalige Staatsrätin Gisela Erler stellt im Haus der Architekten ihr Buch „„Demokratie in stürmischen Zeiten: Für eine Politik des Gehörtwerdens – Politische Erinnerungen“ vor – im Dialog mit Winfried Kretschmann, dem Ministerpräsidenten und alten politischen Weggefährten.

Achim Zweygarth)

Stuttgart. Die Vorstellung, dass man nur die Welt aus den Angeln heben muss und alles wird gut, ist ja nicht neu. Das steht schon im Neuen Testament und Karl Marx war der Idee ebenfalls nicht abgeneigt. Und auch Winfried Kretschmann war einmal überzeugt davon, dass „der Mensch, wie er geht und steht, nicht der richtige Mensch“ sei.

Dann brach er mit Marx. Und nun sitzt er hier, im Stuttgarter Haus der Architekten, der gläubige Katholik, der ehemalige Revoluzzer, und konstatiert: „Der Mensch ist schon der richtige Mensch. Es gibt gar keinen anderen Menschen.“ Auch wenn der Mensch laut Marx das Produkt seiner Verhältnisse ist. „Wer wollte das bestreiten?“

„Wieso bin ich in so einer Sekte gelandet?“, grübelt Kretschmann

Dass man die Menschen so nehmen muss, wie sie sind, dass wir alle aus krummem Holz geschnitzt sind, die Erkenntnis musste reifen. Noch heute, mit 75, demnächst 76 Jahren, werde er gefragt, frage er sich, wie er sich in marxistisch-leninistischen Studentengruppen verirren konnte. „Wieso bin ich in so einer Sekte gelandet?“

Da ist er wieder, der alte Grübler. Und neben ihm sitzt eine, die noch ein bisschen älter ist, den langen Weg mitgegangen ist und nicht zum Grübeln neigt. Zumindest nicht so wie der Ministerpräsident. Anders.

Gisela Erler ist eine Erscheinung. Allein schon äußerlich – Kretschmann mag ein Hüne sein, doch auch Erler lässt sich nicht verstecken. Und dann diese Stimme, die kein Mikro braucht – jedenfalls für die Zuhörer in den vorderen Reihen.

Die beiden erzählen an diesem Abend ihre Lebensgeschichten, die sich zwei Mal kreuzten. Wobei das zweite Mal ohne das erste Mal nicht denkbar gewesen wäre. Denn früh haben die beiden erkannt, dass sie in einem entscheidenden Punkt zusammenpassen: Sowohl dem späteren Ministerpräsidenten als auch seiner späteren Staatsrätin war Anfang der 1980er-Jahre klar, dass sie sich geirrt hatten – in ihren wilden Jahren.

Sie gründeten deshalb eine Gruppierung innerhalb der gerade gegründeten grünen Partei, die sich die „Ökolibertären“ nannte. Und die eine Überzeugung einte: Man kann die Welt nicht gegen die Menschen retten. Oder, wie es Kretschmann am Montag im Haus der Architekten ausdrückt: „Eine Politik kann nur dialogisch erfolgreich sein.“

Es sollte der Schlüssel zum Erfolg sein, auch wenn sich das erst Jahrzehnte später herausstellte. Kretschmann, der Super-Realo, ist der einzige grüne Ministerpräsident geblieben. Seine Grünen wiederum blieben unter ihren Möglichkeiten, weil sie so unpopuläre Forderungen wie den Veggie-Day stellten, eine falsche Kanzlerkandidatin präsentierten und ein misslungenes Heizungsgesetz.

Das ärgert die beiden. Kretschmann äußerte sich schon kurz nach der letzten Bundestagswahl, Erler in einem neuen Buch, das sie an diesem Abend vorstellt. Vier Jahre hat sie daran geschrieben, es ist so etwas wie ihr politisches Vermächtnis geworden. Und ein Stück weit auch jenes von Kretschmann, wie der Titel verrät: „Demokratie in stürmischen Zeiten: Für eine Politik des Gehörtwerdens – Politische Erinnerungen“.

Die „Politik des Gehörtwerdens“, ein sperriger Begriff, wurde hier, im Haus der Architekten, vor etwas mehr als 13 Jahren geprägt – von Kretschmann, der damals gewahr wurde, dass er tatsächlich Ministerpräsident werden könnte angesichts steil in die Höhe gehender Umfragen. Er wollte klarmachen, wie er regieren würde, was er anders machen würde als die CDU in den 58 Jahren zuvor. Insbesondere vor dem Hintergrund der Proteste gegen Stuttgart 21. Und in einem Land, im dem eigentlich eine andere Kultur herrsche, eine „Kultur des Rechthabens“, wie Markus Müller, Präsident der Architektenkammer, am Montag anmerkt.

Dazu fehlte Kretschmann, als er dann tatsächlich die Wahl gewann, aber noch die Person, um die neue Kultur durchzusetzen. Deshalb rief er am 9. Mai 2011 – ihrem 65. Geburtstag – Gisela Erler an. Er machte ihr ein Angebot und setzte ihr eine überschaubare Frist: Sie möge sich bis zum nächsten Morgen entscheiden.

„Hättest du dieses Amt auch übernommen, wenn Winfried Kretschmann in Mecklenburg-Vorpommern Ministerpräsident geworden wäre?“, fragte Erler zum Abschied 2021 eine Freundin. Diese Frage kann die Autorin im Rückblick nicht klar beantworten. Sie vermutet jedoch, dass ihre Bereitschaft, sich in Stuttgart zu engagieren, auch mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hatte.

Und mit der ihrer Eltern, des großen Sozialdemokraten Fritz Erler und seiner Frau Käthe. Zwei Berlinern, die sich am Ende des Krieges in Biberach an der Riss wiederfanden und feststellen mussten, dass es im Südwesten der Republik für Sozialdemokraten keinen Blumentopf zu gewinnen gab oder zumindest kein Direktmandat, selbst für den Oppositionsführer im Bundestag; das war Fritz Erler von 1964 bis zu seinem frühen Tod drei Jahre später.

Seine Tochter nahm ihre späte Berufung in die Politik – zuvor hatte sie die „Mao-Bibel“ auf Deutsch herausgebracht und eine Firma gegründet, die Kinderbetreuung anbietet – auch deshalb an, weil sie darin einen Auftrag ihrer Eltern sah. Fritz Erlers SPD war in Baden-Württemberg nie mehrheitsfähig, nun sollten es Gisela Erlers Grüne richten.

Witzigerweise zog die Staatsrätin in dasselbe Büro im Staatsministerium, in dem zwei Jahrzehnte zuvor ihr Mann, der Christdemokrat Warnfried Dettling, als Leiter der Grundsatzabteilung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel gearbeitet hatte. Deshalb war es für sie auch kein großer Schritt, als es 2016 zur ersten grün-schwarzen Koalition kam. Beim ersten „Familienfoto“ des Kabinetts mischte sich Erler unter die CDU-Kollegen.

Ihr Herzensanliegen, die Bürgerbeteiligung, hatte da schon zahlreiche Stürme überstanden. Am Anfang stand 2012 der Filderdialog, der in die Hose ging, weil Anlaufschwierigkeiten das aus Erlers Sicht durchaus vorzeigbare Ergebnis trübten. Zahlreiche Vorschläge zur Anbindung des Flughafens an Stuttgart 21 kamen zusammen, doch „die Ergebnisse wurden von den verantwortlichen Akteuren einfach ignoriert“. Ein Schicksal, das der Bürgerbeteiligung ständig droht. Widerstände mussten überwunden werden, insbesondere dort, wo bisher entschieden wurde – bei den Bürgermeistern, in den Behörden, Gemeinderäten und Parlamenten. „Oh Gott, jetzt reden die Bürger auch noch rein“, habe es oft geheißen. Dabei wollte Erler die Entscheidungskompetenzen gar nicht verlagern. Ihr Ding war nicht die direkte, sondern die „deliberative“ Spielart der Demokratie. Die Bürger sollten mitreden, aber nicht unbedingt mitentscheiden.

Bürgerbeteiligung als „Teil der baden-württembergischen DNA“

Es dauerte zwei volle Legislaturperioden, bis die Botschaft angekommen war, bis die Bürgerbeteiligung, wie es der Chef der Architektenkammer am Montag ausdrückt, „Teil der baden- württembergischen DNA“ wurde. Der Ministerpräsident ließ seiner Staatsrätin freie Hand, weil er wusste, dass er ihre uneitle Unerschrockenheit für seine Politik des Gehörtwerdens brauchte. Er habe Hannah Arendt für den philosophischen Überbau gehabt und „und Gisela Erler, die sie in die Tat“ umsetzte, verrät er im Haus der Architekten..

Auch die Frage, was Gehörtwerden von Erhörtwerden unterscheidet, in der der Vorwurf mitschwingt, dass der Chef am Ende doch alles selbst entscheidet, spricht Winfried Kretschmann an diesem Abend an. Er habe nie „aus Baden Württemberg den größten Debattierklub aller Zeiten machen“ wollen, „in dem nichts mehr entschieden wird“.

Doch es sei wichtig, das „Urteilsvermögen der Bürgerinnen und Bürger für die Politik zu verflüssigen“. Politiker neigten dazu, das Wissen der Bevölkerung zu über- und ihre Urteilskraft zu unterschätzen. Er habe jedoch eines gelernt: „Die Leute können viel besser Dinge beurteilen, als wir glauben.“

Prominenz bei der Buchpräsentation: Frank Brettschneider (links) von der Uni Hohenheim, der seit Jahren die Akzeptanz und Wirkung von Bürgerbeteiligung untersucht, mit Krimiautor Wolfgang Schorlau und Wissenschaftsministerin Petra Olschowski. Foto: Achim Zweygarth

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