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Die Grünen im Dilemma der Bauernproteste
Stuttgart/Ellwangen. Es ist ein Sinnbild des Konflikts rund um die gestrichenen Agrarsubventionen nach der Bauernkundgebung zum Kalten Markt in der Ellwanger Stadthalle. Die Temperatur draußen: dauerfrostig. Auf der einen Seite auf einem Anhänger in einem abgesperrten Bereich: Cem Özdemir.
Etwa 100 Meter auf der anderen Seite auf einem Lastwagen: Organisatoren der Demonstrationen der Landwirte, die dem Bundeslandwirtschaftsminister sagen wollen, „wo der Schuh drückt“. Dazwischen: etwa 1000 Menschen vor der Kulisse Hunderter Traktoren, die einmal mehr den Verkehr rund um Ellwangen lahmlegen. Die Stimmung: verärgert. Und dennoch auch Respekt für Özdemir, dass er gekommen ist.
Zuvor verteidigt er sich und seine Politik in der proppenvollen Stadthalle. Applaus und Pfiffe zu seiner Begrüßung, doch alles bleibt friedlich. „Es kann nicht sein, dass ein Berufsstand über Gebühr strapaziert wird, vor allem ohne dass er vorher Gehör gefunden hat. Und das war hier nicht der Fall und deswegen habe ich gesagt, diese Beschlüsse kann ich so nicht mittragen,“ sagt Özdemir.
Özdemir stellt sich den Landwirten und bittet um Fairness
Er bittet um Fairness und legt Wert darauf, dass er erst seit zwei Jahren als Minister in der Verantwortung sei. Vieles sei schon vor seiner Amtszeit falsch gelaufen. Außerdem sei er in die kurzfristigen Subventionskürzungen nicht miteinbezogen gewesen. Das dürfe es so nicht mehr geben.
Für Özdemir geht es um viel. Als grüner Agrarminister sitzt er zwischen allen Stühlen. Will er 2026 Ministerpräsident in Baden-Württemberg werden, was der wahrscheinlichste Plan für die Kretschmann-Nachfolge ist, darf er den ländlichen Raum nicht gegen sich aufbringen. Denn es war das Erfolgsrezept, dass seit 2011 die Grünen ins konservative Milieu eindrangen – und so das Wählerpotenzial der CDU erschlossen haben.
Einen Kommentar zum Bauernprotest lesen Sie hier.
Özdemir muss also den Balanceakt schaffen, auf der Seite der Bauern zu stehen, und gleichzeitig in der Ampelkoalition eine konstruktive Rolle zu spielen. Das beschäftigt auch Winfried Kretschmann. Der Landesvater hat mit Özdemir im Hintergrund dafür gekämpft, dass ein Teil der Kürzungen zurückgenommen wurde.
Kretschmann fürchtet um den mühsam aufgebauten Dialog
Am Dienstag auf der Landespressekonferenzerinnert der 75-jährige Landesvater daran, dass er schon seit dem 80er-Jahren das Gespräch mit den Landwirten sucht. Und als Regierungschef einen Strategiedialog gestartet, beim Volksbegehren „Rettet die Bienen“ einen Kompromiss mit der Landwirtschaft ausgehandelt hat. Das sieht auch der Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider so: „Man hat im Südwesten einen Modus Vivendi gefunden, durch einen konstruktiven Dialog über lange Zeit.“
Doch dieser Modus droht nun, mit dem Grundsatzkonflikt hinweg gespült zu werden. „Ich bin etwas erstaunt, dass die Landwirte nicht darauf reagieren, dass die Bundesregierung Teile der Kürzungen zurück genommen hat“, sagt Kretschmann ratlos. Das zarte Pflänzchen Dialog wird plattgewalzt. „Die Bundesregierung hat die Bedürfnisse der Landwirte völlig falsch eingeschätzt“, sagt Brettschneider, „das Vertrauen auf Verlässlichkeit ist verloren gegangen.“ Und hier stehen die Grünen besonders im Fokus.
An den Grünen kulminiert sich der Frust
Auch weil Özdemir der zuständige Minister ist, und der allgemeine Ärger über den Streit der Ampelkoalition und die wirtschaftliche Lage bei den Grünen kulminiert. Das frustriert Kretschmann, weil er sich als pragmatischer Teil seiner Partei versteht, der die „Politik des Gehörtwerdens“ zum Prinzip erhoben hat. Das hektische Hin und Her der Ampel überrumpelt auch ihn. Noch vor Weihnachten hat er die Kürzungen bei Landwirten öffentlich kritisiert: „Sie haben doch gar keine Ausweichmöglichkeit beim Agrardiesel.“
Der Konflikt als Feuertaufe für die Kretschmann-Nachfolge?
Gelingt die Doppelstrategie? Dass Özdemir sich auf Bauernkundgebungen ausbuhen lässt, zuhört und versucht, in Berlin etwas heraus zu handeln, nötigt selbst den Landwirten Respekt ab. „Es ist sinnvoll, sich gerade jetzt nicht wegzuducken, Format zu zeigen und das auszuhalten“, sagt dazu der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider.
Ist dieser Spagat erfolgreich, könnte der Konflikt sogar die Feuerprobe sein, aus der der 58-Jährige aus Bad Urach gestärkt hervor geht. Und sich damit als tauglich für das höchste Amt im Land erweist.