Essay

Des Kanzlers Kompass und die Geschlossenheit der Genossen

Die SPD hat ihre Grabenkämpfe hinter sich gelassen und bleibt ein Pfeiler der Demokratie. Olaf Scholz, Lars Klingbeil und Saskia Esken beweisen, dass man auch ohne die Alphamännchen, die die Partei lange prägten, Politik machen kann, meint Michael Schwarz.

Das waren noch Zeiten, als die späteren SPD-Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine (links) und Gerhard Schröder (rechts) Seit' an Seit' mit ihrem großen Vorbild Willy Brandt (Mitte) 1987 über den Bonner Hofgarten schritten. Direkt hinter Brandt ist Ulrich Maurer zu sehen, der von 1987 bis 1999 die SPD in Baden-Württemberg anführte und später wie Lafontaine zur Linkspartei wechselte.

dpa/picture alliance / augenklick/firo Sportphoto)

Oskar Lafontaine ist dieses Jahr 80 geworden, Gerhard Schröder folgt ihm im nächsten Jahr. Brandts Enkel haben die politische Bühne längst verlassen und grüßen, wenn überhaupt, nur noch von der Seitenlinie. Die Jungen sollen es richten. Doch die sind auch nicht mehr die Jüngsten.

Das ist das Dilemma der Sozialdemokratie. Sie wird von Leuten geführt, die lange in der zweiten, dritten oder gar keiner Reihe standen. Die nicht mit der Faust auf den Tisch schlagen, keine innerparteilichen Konkurrenten auf offener Parteitagsbühne aus dem Weg räumen oder sich die Gummistiefel anziehen, wenn das Wasser über die Deiche tritt. Und die jetzt von noch Jüngeren herausgefordert werden: Die Jusos verlangen von ihrem Kanzler Führung. Was soll man dazu sagen?

Es stimmt ja schon: Ein echtes Alphamännchen könnte man derzeit gut gebrauchen, um der FDP den Marsch zu blasen und diesem Oppositionsführer, dem nichts heilig zu sein scheint, wenn es darum geht, die Regierung in den Senkel zu stellen.

Doch benötigt die SPD, um sich gegen solche Zumutungen zu wehren, wirklich Genossen, die am Tor des Kanzleramts rütteln und Familienthemen für Gedöns halten? Ganz abgesehen davon, dass die Fähigkeit, Fehler einzugestehen, auch bei den besagten Vertretern der Enkelgeneration nicht sonderlich ausgeprägt war.

Wer Olaf Scholz beim Bundesparteitag am Wochenende in Berlin beobachtete, konnte den Eindruck gewinnen, dass er sich die harsche Kritik, die nach dem Verfassungsgerichtsurteil über ihn einbrach, zu Herzen genommen hat. Und dass er seiner Partei auch ein Stück weit Abbitte tat. Man spürte förmlich, dass dieser Mann, der seine Gefühle sonst so sorgsam verbirgt, Gefühle hat. Er strahlte geradezu, als er nach einstündiger Rede und minutenlangem Applaus wieder in der ersten Reihe saß.

Zwei Reihen weiter hinten applaudierte Andreas Stoch, Vorsitzender eines Landesverbands, der es seit jeher nicht einfach hat. Wer aus Baden-Württemberg stammt, kann in der SPD eigentlich nur auf Bundesebene in die erste Reihe aufsteigen. Anders als in allen anderen westdeutschen Ländern haben die Genossen hier nach dem Krieg nie Ministerpräsidenten gestellt. Wer im Südwesten dauerhaft Landespolitik macht, muss schon ein dickes Fell haben.

Der vierfache Familienvater aus Heidenheim hat sich nie daran gestört. Er war Kultusminister, als Grün-Rot regierte, und übernahm nach der verlorenen Wahl von 2016 den Fraktionsvorsitz. 2018 kam auch noch der Parteivorsitz hinzu.

Seither führt er die Sozialdemokraten im Südwesten so geschlossen wie Klingbeil und Esken die Genossen im Bund. Die Zeiten, da sich die Partei vor allem mit sich selber beschäftigte, scheinen vorbei zu sein. Die Solidarität gilt nicht mehr nur den Verdammten dieser Erde, sondern auch dem Nächsten in der Partei.

Das schlägt sich nicht unbedingt in Meinungsumfragen nieder und es muss sich nicht einmal bei Wahlen niederschlagen. 2021 ging es für die Sozialdemokraten im Land noch einmal abwärts, obwohl man dachte, die Talsohle sei schon erreicht. Und auch der Sieg bei der Bundestagswahl war wohl nur einer Verkettung glücklicher Umstände zu verdanken.

Dennoch muss man dem Kanzler zugutehalten, dass er das Land bislang ordentlich durch die Krisen gesteuert hat, auch wenn das Gesamtbild durch die Haushaltstrickserei Schaden nahm. Und dass er auch dann einem inneren Kompass besitzt, wenn dies keine Punkte bei den Meinungsumfragen einbringt.

Scholz ist kein großer Kommunikator, aber er steht für eine SPD, die diese Republik vernünftig regieren will und dabei Kompromisse mit Koalitionspartnern eingeht, die sich alles ander als grün sind. Stoch wiederum steht für eine Opposition, die ihre Rolle darin sieht, die Regierung zu kritisieren, ohne sie zu verdammen.

All dies hat weniger Unterhaltungswert, als die Herren Lafontaine und Schröder in ihren besten Jahren besaßen. Doch es stärkt den Ruf einer Partei, die ihre beste Zeiten hinter sich zu haben schien, ehe sie 2021 im Bund wie Phoenix aus der Asche stieg.

Deutschland kann die Sozialdemokratie auch 160 Jahre nach ihrer Gründung gut gebrauchen. Als verbindendes demokratisches Element. Als soziales Gewissen. Aber auch als eine Partei, die die Herausforderungen der Zeit erkennt. Vor allem jene, dass Deutschland, dass Europa immer weiter nach rechts rückt. Und dass die Menschen verlernen könnten, was er heißt, Seit‘ an Seit‘ in eine bessere Zukunft zu schreiten.

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