Rudi Hoogvliet erkannte, was in Kretschmann steckt

Rudi Hoogvliet (links) war zehn Jahre der Sprecher von Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Er war Strippenzieher, genialer Kommunikator und hat das Image vom „Landesvater“ geprägt. Jetzt leitet er die Landesvertretung in Berlin.
dpa)Stuttgart. Die ersten Gespräche mit dem neuen Fraktionschef der Grünen, Winfried Kretschmann, im Jahr 2002 waren nicht besonders glücklich. Rudi Hoogvliet galt als rechte Hand des Vorgängers Fritz Kuhn, der als Bundesvorsitzender nach Berlin gewechselt war. Kretschmann gab sich unnahbar.
Doch dann saßen sie eines Tages zusammen. Hoogvliet, der geniale Stratege und Organisator, und Winfried Kretschmann, ein ungewöhnlicher Politiker. Ehemaliger Maoist, ein Anhänger von Technologie, wertkonservativ aus Oberschwaben. Damals hatte er nicht einen Ruf als über den Dingen schwebender Landesvater.
Wie entstand das Image von Winfried Kretschmann?
Kretschmann sagte, so erzählt es Hoogvliet, ihm sei alles zu oberflächlich und zu schnell geworden, er passe nicht in diese Zeit. Doch Hoogvliet entgegnete: „Naja, vielleicht ist genau das, was die Menschen brauchen, jemanden, der sich nicht so schnell kirre machen lässt, nicht auf Trends hüpft, eine klare Haltung hat.“ Ein Charakterkopf in einer Szene voller Karrieristen? Das Image vom glaubwürdigen, authentischen Landespolitiker war geboren, das ihn neun Jahre später in die Villa Reitzenstein führen sollte.
Der Aufstieg von Kretschmann ist nicht nur, aber auch mit der Rolle von Rudi Hoogvliet verbunden, der zehn Jahre sein Regierungssprecher war. „Sie können kein Image erfinden“, räumt der Holländer mit dem Mythos auf, er habe Kretschmanns Bild erschaffen. Das mag sein, aber er konnte Kretschmanns Unkonventionalität wie kaum ein anderer ins Positive drehen.
Hoogvliets politische Biografie ist eng mit der Geschichte der Grünen in Baden-Württemberg verwoben – und doch begann sie fernab von Stuttgart, in den Straßen Amsterdams. Als junger Zivildienstleistender in einem Altenheim für sozialistische Kriegsveteranen.
Der Liebe wegen kam Hoogvliet nach Stuttgart. Er schloss sich der Friedensbewegung an. Die Großdemonstrationen gegen Pershing-II-Raketen prägten ihn nachhaltig. „Menschenketten von Stuttgart nach Ulm – das war unsere politische Schule“, erinnert er sich. Diese hatte er organisiert.
Sein Einstieg bei den Grünen 1986 erfolgte fast beiläufig: Als Koordinator landesweiter Friedensinitiativen wurde er von Parteimitgliedern direkt angeworben. Drei Monate später saß er im Landesvorstand – ein Start, der typisch war für die basisdemokratische, aber auch chaotische Frühphase der Partei.
Die späten 1980er- und frühen 90er-Jahre waren geprägt von ideologischen Grabenkämpfen zwischen Realos und Fundis. Als Landesvorsitzender von 1990 bis 1996 setzte Hoogvliet klare Grenzen: „Doppelmitgliedschaften mit der PDS? Unmöglich!“ Sein Credo war ein pragmatischer „Ökologismus“, der technologische Lösungen mit Umweltpolitik verband – eine Linie, die später Schlüsselfiguren wie Fritz Kuhn und Rezzo Schlauch prägten. Kuhn mit Hoogvliet als Helfer ebnete als erster Grüner mit dem Thema Technologiepolitik den Weg von der Anti-Atom-Partei zur Regierungspartei.
„Entscheidend war auch die kommunale Verankerung“, erinnert sich Hoogvliet: Bürgermeister wie Elmar Braun in Maselheim als erster grüner Rathauschef weltweit oder Dieter Salomon in Freiburg bewiesen, dass Grüne Verwaltungskompetenz besaßen. Hoogvliet wurde die rechte Hand von Fraktionschef Fritz Kuhn, betrachtete den damals noch wenig prominenten Kretschmann so: „Er war kein Medienprofi, aber ein Redner mit klaren Überzeugungen – und dieser konsistente Grundton wurde sein Markenzeichen.“ So kamen die beiden sich näher, wurden enge Vertraute. Immer wieder organisierte Hoogvliet Wahlkämpfe für die Bundespartei, zuletzt 2009. Hoogvliet fragte 2011 Kretschmann: „Setzen wir auf Sieg? Wollen wir in die Regierung? Dann komme ich, aber dann arbeiten wir darauf hin, dass wir aus der Opposition heraus kommen.“
Kretschmann sagte zu. Es wurde zum Schicksalsjahr für die Grünen. Hoogvliet setzte auf eine dreifache Strategie: Erstens inszenierte er Kretschmanns vermeintliche Schwächen – seine Bedächtigkeit, seine Abneigung gegen mediale Schnellschüsse – als Stärken. „In einer Zeit der Dauerkrisen wünschten sich die Menschen einen Charakterkopf, keinen Schönredner“, analysierte Hoogvliet. Zweitens knüpfte er gezielt Kontakte zur Industrie, um das Image der „Öko-Spinner“ abzustreifen. Doch die CDU strahlte aus, dass sie im Land unbesiegbar sei. „Das zu knacken, war das schwierigste“, erinnert sich Hoogvliet. So nutzte er drittens die Fukushima-Katastrophe im März 2011 geschickt aus: CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus galt als Atomkraft-Befürworter, die Grünen waren immer konsequent für den Ausstieg gewesen.
Der Wahlsieg mit 24,2 Prozent war eine Sensation. Dass man sogar knapp vor der SPD lag, hatte niemand erwartet.
Plötzlich Regierung! Das fühlte sich nach 58 Jahren CDU-Herrschaft unwirklich an. Doch Hoogvliet bestreitet, dass es in der konservativ geprägten Verwaltung Widerstände gab: „Zum Glück gibt es in Baden-Württemberg neutrale Beamte, die der Verwaltung verpflichtet sind.“ Zudem habe man den Mitarbeitern im Staatsministerium wieder das Gefühl gegeben, etwas wert zu sein, gehört zu werden, was unter Vorgänger Mappus verloren gegangen sei.
Doch die eigentliche Meisterleistung folgte nach dem Wahlsieg: Hoogvliet, nun Regierungssprecher, formte das Bild von Kretschmann als „Landesvater“. Durch den Umbau des Atomkonzerns EnBW wurde die Energiewende konkret. Und man musste das ungeliebte Projekte Stuttgart 21 umsetzen. Gleichzeitig betonte Kretschmann seine „Politik des Gehörtwerdens“, die ihn vom autoritären Stil Mappus‘ abhob. „Er besuchte Bauernproteste, diskutierte mit Mittelständlern – und blieb selbst bei Gegenwind linientreu“, so Hoogvliet. Dies schuf Vertrauen: 2016 und 2021 wurde Kretschmann erneut bestätigt, zuletzt mit 32,6 Prozent.
Hoogvliet war zehn Jahre Regierungssprecher, suchte Kontakt zu Journalisten und Meinungsführern, konnte die Botschaften Kretschmanns ausgesprochen elegant verkaufen. „Ein guter Sprecher muss auch immer integraler Bestandteil der Strategie sein, damit er nicht nur erzählt, was ihm vorgelegt wird.“
Jetzt lenkt Hoogvliet die Landesvertretung in Berlin
Schließlich wechselte man 2016 den Koalitionspartner, gegen erhebliche Widerstände an der Basis gab es Grün-Schwarz. Hoogvliet bestreitet, dass dies Kretschmanns eigentlicher, sehnlichster Wunsch war: „Gut möglich, dass wir Grün-Rot fortgesetzt hätten, aber es hat machtarithmetisch nicht gereicht.“ Die Koalition funktioniert aus seiner Sicht seither, weil die Grünen Klimaziele durchsetzen und die CDU Wirtschaftskompetenz signalisieren könne.
Nach über einem Jahrzehnt an Kretschmanns Seite lenkt Hoogvliet seit 2021 die Landesvertretung Baden-Württembergs in Berlin. Das hatte auch private Gründe, er wollte seine Familie häufiger sehen, die in Berlin lebt. „Ein toller Job, ich mache die Arbeit liebend gerne“, sagt der 66-Jährige. Er koordiniert die Abstimmung im Bundesrat und macht Lobbyarbeit für den Südwesten.
Können die Grünen auch 2026 weiterregieren? Hoogvliet sagt dazu: „Cem Özdemir hat Format, er wäre ein hervorragender MP, aber 2026 ist noch offen.“ Rudi Hoogvliet bleibt in Berlin. Aber vielleicht sucht Özdemir gelegentlich ja seinen Rat.
Zur Person
Rudi Hoogvliet, geboren am 18. August 1958 in Vlissingen (Niederlande), studierte Politikwissenschaft und Pädagogik in Stuttgart. Seine Karriere begann in den 1980er-Jahren bei den Grünen, er wurde 1990 Landessprecher. 1993 bis 2011 war er Sprecher der Landtagsfraktion, dann von 2011 bis 2021 Regierungssprecher von Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Seit dem 12. Mai 2021 ist er Staatssekretär für Medienpolitik und Bevollmächtigter des Landes Baden-Württemberg beim Bund mit Stimmrecht im Landeskabinett. Zuvor leitete er mehrfach Bundestagswahlkämpfe für die Grünen in der Berliner Zentrale.
