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Essay

Der Exodus von X: Warum man trotzdem bleiben sollte

Das soziale Netzwerk X zu verlassen, soll ein Zeichen setzen. Das könnte sich aber als Eigentor entpuppen. Ein Essay von Leonie Henes.

Das Logo der umstrittenen Plattform X.

IMAGO/NurPhoto)

Seit die Plattform Twitter in X umbenannt wurde, ist dem neuen Inhaber Elon Musk nicht nur das weiße Vögelchen von dem bisherigen Logo aus dem Fenster geflogen, sondern auch zahlreiche Nutzer haben den Absprung gewagt. Sie wenden sich alternativen Plattformen zu. Mehr als 60 Hochschulen, auch viele im Südwesten, das Verteidigungsministerium und die Bundeswehr – die Liste an denen ist lang, die ihren Account auf X stillgelegt haben. Darunter nicht nur organisierte Institutionen, sondern Personen, die in der Öffentlichkeit stehen. Doch warum erleidet das soziale Netzwerk diesen noch nie dagewesenen Exodus?

Es wird kritisiert, dass X unter einer prosperierenden Radikalisierung des eigenen Diskurses leidet. Zuletzt verkündete auch der Bundesverband NABU seine Aktivitäten auf X einzustellen, da „offene und vielfältige Debattenräume“ nicht gegeben seien. Ähnlich sehen es die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die GEW, die X als Forum für Hass und Hetze beschreiben.

Nüchtern betrachtet, war X schon zu Zeiten von Twitter eine gefährliche Plattform. Der Grund ist simpel und lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: Erstens die begrenzte Zeichenzahl. Akteure müssen ihre Statements kurz und prägnant halten, ohne die Möglichkeit Erklärungen beifügen zu können.

Zweitens: Echtzeitkommunikation. Es wird schneller auf einen Beitrag reagiert, als dass der Inhalt reflektiert werden oder die ersten hochkochenden Emotionen verarbeitet werden können. Auch Fehlinformationen werden um ein Vielfaches schneller verbreitet. Zu guter Letzt drittens: der Filterblasen-Effekt. Soziale Medien arbeiten in den meisten Fällen mit einem Algorithmus, der den nutzereigenen Interessen und Überzeugungen entspricht. Komplexe Themen werden somit nur aus einem Blickwinkel betrachtet. Es kann zu keinem Erkenntnisgewinn abseits der eigenen Überzeugungen kommen.

X also zu verlassen, ist wie die Leiche im Keller zu verstecken. Wer der Meinung ist, radikale Ideen begraben zu können, indem er sich selbst dem Einzugsgebiet entzieht, der befindet sich im Irrtum.

Ein Zeichen zu setzen, ist wichtig. So wie man aufhören kann, Fleisch zu essen, für eine andere Form der Ernährung einzustehen. Oder eben eine Plattform zu verlassen, die unter der Leitung eines Mannes steht, dessen politische Ansichten nicht mit den eigenen d‘accord sind. Wer aber tatsächlich etwas in der Welt verändern möchte, der muss aktiv werden. Im Bereich der politischen Ansichten bedeutet das: anderen Menschen einen Erkenntnisgewinn bescheren. Denn Andersdenkende wird es immer geben und sie verschwinden nun mal nicht einfach, indem man ihnen das Feld räumt und versucht sie zu ignorieren. Viel mehr schenkt man ihnen eine neue Spielwiese.

Verstanden haben das Politiker wie der grüne Landtags-Fraktionschef Andreas Schwarz der sich über die Videoplattform TikTok richtigerweise gesagt hat: Man sollte diese Plattformen nicht der AfD überlassen, sondern selbst und mit den eigenen Überzeugungen Präsenz zeigen. Diese Erkenntnis hat viele Politiker im vergangenen Jahr erst dazu gebracht, sich bei TikTok anzumelden.

Denn Fakt ist: Soziale Medien haben einen Einfluss, der nicht zu unterschätzen ist. Und sie sind eine Möglichkeit vor allem junge Menschen zu erreichen. Denn umso jünger der Altersdurchschnitt, desto elementarer sind die sozialen Medien in der Informationsbeschaffung.

Die Gewerkschaften Verdi und fürchten gar, die der Plattform X zugrunde liegenden Algorithmensollen könnten „demokratiefeindliche Narrative“ bevorzugt behandeln. Wenn an dieser Aussage tatsächlich etwas dran ist, stellt sich die Frage: Wie wirkungsvoll kann es dann sein, weiterhin Inhalte auf einer Plattform zu teilen, wenn sie dem Großteil der Nutzer nicht angezeigt werden?

Wenn man genau hinschaut, gibt es auf X viele Welten – linksliberale, konservative, oder für politisch Desinteressierte, die sich für Fußball oder Reisetipps interessieren. Nutzer können alles abrufen, was sie interessiert und alles teilen, das sie bewegt. Wer X verlässt, überlässt die erste von vielleicht vielen Plattformen einer anderen Gesinnung und fördert damit deren Verbreitung. Stattdessen sollte man bleiben: Denen die Stirn bieten, deren Ansichten man selbst als falsch betrachtet und mit ihnen in einen Dialog treten. Und die Nutzer der Plattformen wissen lassen, dass es mehr als eine Auffassung von Mit- und Gegeneinander gibt.

Quelle/Autor: Leonie Henes

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