Das nächste Kapitel im erstaunlichen Leben des Cem Özdemir
Bad Urach. Man spürt förmlich die Zeit, die er in diese Rede gesteckt, die Liebe, aber auch die Zweifel, die nie ganz weg waren, auch heute nicht, da ihm die höchste Ehre zuteilwird, die seine Heimatstadt zu vergeben hat. Cem Özdemir ist seit Donnerstag Ehrenbürger von Bad Urach und er ist dies, obwohl es im Gemeinderat offenbar Widerstände gab. Die CDU soll nicht begeistert gewesen sein, als sich seine einstige Nachhilfelehrerin Irmgard Naumann (Freie Wähler) für ihn stark gemacht hat. Mehr ist offiziell nicht zu erfahren, schließlich fiel die Entscheidung über Özdemirs Ehrenbürgerschaft am 19. März in nicht-öffentlicher Sitzung.
An diesem Abend ist jedoch nicht die Zeit, um über solche Manöver zu diskutieren. Es geht darum, einen Menschen zu würdigen, der seinen Weg gegen alle Widrigkeiten und Wahrscheinlichkeiten gemacht hat. Den damals, gegen Ende der vierten Klasse, erst der Klassenlehrer und dann die ganze Klasse auslachten, als er auf die Frage, wohin er nach den Ferien wechsele, antwortete: „Ich gehe aufs Gymnasium.“
Aus Cem, dem Sohn des Abdullah, dessen tscherkessische Vorfahren vom Zaren verfolgt und nach Anatolien geflohen waren, und der Nihal aus Istanbul, die Anfang der 1960er-Jahre als Gastarbeiter nach Deutschland kamen und sich in Urach kennenlernten, ist etwas geworden. Und nicht nur er, sondern eine ganze Stadt kann darauf stolz sein. Auch wenn er es mit ihr und sie mit ihm nicht immer leicht hatten.
Tatsächlich wechselte damals von der Grund- auf die Hauptschule. Doch dann ging es aufwärts: erst Realschule, dann Ausbildung zum Erzieher, Fachhochschulreife, Studium der Sozialpädagogik. Parallel dazu die Partei. 1981 gründete er den Kreisverband der Grünen mit, 1994 zog er als erster Abgeordnete mit türkischen Wurzeln in den Bundestag ein. 2002 die Bonusmeilen-Affäre, die ihn viel Reputation kostete. 2004 der Wechsel ins Europaparlament. Seit 2013 gehört er wieder dem Bundestag an. Von 2008 bis 2018 war er zudem einer der beiden Bundesvorsitzenden der Grünen. Und seit 2011 ist er Bundeslandwirtschaftsminister, das erste Mitglied der Bundesregierung mit türkischen Wurzeln.
14 Kapitel umfasst das Buch über Özdemirs Leben, das Irmgard Naumann aus Anlass der Ernennung ihres ehemaligen Nachhilfeschülers zum Ehrenbürger verfasst hat. Ein weiteres Kapitel hat Özdemir erst vor einer Woche aufgeschlagen und man darf wohl davon ausgehen, dass er mit der Erklärung seiner Kandidatur für die Landtagswahl 2026 auch deshalb so lange zögerte, weil er diesen Termin am Reformationstag in seiner Heimatstadt im Blick hatte.
Da steht er nun endlich auf der Bühne, hat die lobenden Worte von Bürgermeister Elmar Rebmann (SPD) und seiner ehemaligen Nachhilfelehrerin vernommen, hat die Ehrenbürgerurkunde empfangen. Das Thema, dessentwegen der Focus, der Spiegel, der SWR und das ZDF da sind – die Spitzenkandidatur, die mögliche Nachfolge von Winfried Kretschmann –, streift er so kurz, dass man es fast überhört. Viel wichtiger ist ihm an diesem Abend, all jenen zu danken, die ihn zu dem gemacht haben, der er heute ist. Zuvörderst seinen Eltern, die diese Ehre seiner Ansicht nach ebenso verdient hätten und dies nun leider nicht mehr erleben können. Aber auch zahllosen Mitschülern, Hermann, Peter, Hartmut und wie sie alle heißen. Aber auch Olcay und José.
Als er am Ende auch die Familien Ulucer, Soylu, Vardar, Tunc, Hasasiklar und Zeybek erwähnt, wird noch einmal klar, dass hier ein Schwabe mit türkischen Wurzeln steht. Einer, der es auch deshalb nie einfach hatte. Und der nicht nur mit der deutschen Rechtschreibung auf Kriegsfuß stand, bis Irmgard Naumann sich seiner annahm und später der ganzen Familie. So bekochte sie den Vater und den Sohn, als die Mutter einmal länger im Krankenhaus war.
Und doch wirkt er am Ende seiner Rede, als die letzten Worte verklungen sind, etwas verloren auf dieser großen Bühne, vermutlich ist er einfach gerührt. Man würde gerne wissen, was ihm noch durch den Kopf geht. Es stimmt schon, die Aufgabe, der er sich jetzt gestellt hat, ist die größte von allen. Da wird er viel Unterstützung brauchen. Und günstige Winde wie damals 2011, als sein Vorbild Winfried Kretschmann die Villa Reitzenstein im Sturm nahm und bis heute nicht zurückgab. Sein Nachfolger könnte der erste grüne Ministerpräsident mit türkischen Wurzeln sein. Und nicht nur ein Großteil der 300, die an diesem Abend in der Festhalle versammelt sind, dürfte denken: Das wäre doch was!