„Dann feiern wir, dass sich die Kelchstützen biegen“
Stuttgart. Sie sind älter geworden und ihre Haare grauer. Sie sind nicht mehr ganz so viele wie damals, als alle Welt vom Juchtenkäfer sprach und auf Stuttgart starrte. Sie stehen seit 2017 auf duden.de – als „Wutbürger, Wutbürgerin“. Auf einer Seite mit dem „Aluhut“, was nicht jedem von ihnen gefallen dürfte. Sie wurden als Ewiggestrige und „verwöhnte Halbhöhenlage“ gescholten. Dabei seien sie doch „bessere Bahnexperten als bei der Deutschen Bahn“. Das hat ihnen Jürgen Resch, Chef der Deutschen Umwelthilfe, an diesem Montag ausdrücklich bestätigt.
Der Widerstand als Kraftstoff, der einen 80-Jährigen am Leben hält
Allerdings heißt das nun nicht, dass sie mit Resch einer Meinung sind. Der eine oder andere vielleicht, der sich in den vergangenen 15 Jahren von der Vorstellung verabschiedet hat, dass Stuttgart 21 noch zu stoppen ist. Resch nämlich findet, dass man den Tiefbahnhof, der ja wohl irgendwann fertig wird, auch nützen darf. Zusätzlich zu den 16 Gleisen des Kopfbahnhofs. Nach dem Vorbild von Zürich.
Norbert Bongartz sieht das anders. Der 80-Jährige, der am Infostand des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 sitzt, warnt davor, das Bahnprojekt, das ja nicht nur aus einem Tiefbahnhof besteht, jemals in Betrieb zu nehmen. Der Fildertunnel, der Innenstadt und Flughafen verbinden soll, sei lebensgefährlich. Wegen der hohen Steigung und weil sich die Türen zu den Schutzräumen immer nur in eine Richtung öffnen ließen. Wenn da ein Brand ausbreche, seien die Menschen verloren. „Wir sind Zeugen einer Tragödie, deren Ausmaß wir nicht kennen.“
Für Bongartz, der bis zu seiner Pensionierung im Landesdenkmalamt tätig war, ist der Widerstand „der Kraftstoff“, der ihn am Leben erhält. Er ist für das Konzept „Umstieg 21“. Die bereits gegrabenen 60 Tunnelkilometer und der Tiefbahnhof sollen anderweitig verwendet werden, etwa für Parkplätze.
Damit ist er schon ziemlich nah am anderen Redner, der neben Resch bei der 700. Montagsdemo auftritt. Volker Lösch, freier Regisseur aus Berlin, war von 2005 bis 2013 Hausregisseur am Schauspiel Stuttgart, also quasi Nachbar von Stuttgart 21. Anders als der Chef der Deutschen Umwelthilfe hält er kein anspruchsvolles Referat, in dem es um Planfeststellungsverfahren und Verwaltungsgerichte geht und darum, wie man die Bahn zwingen kann, die beiden Gäubahngleise bis zum Kopfbahnhof zu erhalten.
Nein, Lösch lässt die Menge deklamieren: „Aufhören zu lügen! Baustopp jetzt! Und oben bleiben! Für immer!“ Als das nicht auf Anhieb klappt, muss sich der tausendköpfige Chor eine Standpauke anhören: „Ihr seid ja noch langsamer als die Bauprojektverantwortlichen!“ Lösch gehört zu jenen Projektgegnern, die keine Kompromisse machen. Wenn überhaupt, dann hat der Tiefbahnhof für ihn nur als Geisterbahn eine Zukunft. Die Tunnelröhren wiederum ließen sich für ein Spaßbad verwenden. 2050 werde auch Stuttgart 21 endlich einen passenden Namen bekommen – nämlich „Dummheit 21“, „Debakel 21“ oder so ähnlich. „Dann werden wir feiern, dass sich die Kelchstützen biegen“, prophezeit er. Und bekommt dafür etwa eben so viel Applaus wie Jürgen Resch.
Man sollte zwischen den Reschs und den Löschs unterscheiden
Insofern fragt man sich schon, was in den Menschen vorgeht, die seit 15 Jahren jeden Montag auf die Straße gehen. Klar, vom Thema haben sie Ahnung, aber nehmen sie auch wahr, dass sich die Welt weitergedreht hat? Vermutlich muss man zwischen den Reschs und den Löschs unterscheiden. Dass ihr Protest jedoch durch die endlose Serie von Kostensteigerungen und Terminverschiebungen bei „Deutschlands dümmstem Großprojekt“, wie es auf einem Transparent heißt, weiter Nahrung bekommt, lässt sich kaum bestreiten.