Essay

Claus Weselsky und ETCS, euch schickt der Himmel

Warum der Lokführerstreik und das Drama um die Digitalisierung von Stuttgart 21 auch ihr Gutes haben. Und was die griechische Rachegöttin Nemesis mit der Deutschen Bahn im Schilde führt.

GDL-Chef Claus Weselsky hat am Montag weitere Streiks angekündigt.

dpa/REUTERS/Lisi Niesner)

Die Rachegöttin Nemesis erscheint in der griechischen Mythologie in vielerlei Gestalt. Mal ist sie Fisch, mal Ente oder Gans. Jetzt hat sie ihr Aussehen nochmals verändert. Sie trägt die Züge von Claus Weselsky und hört auf den Namen European Train Control System (ETCS), zu Deutsch Europäisches Zugbeeinflussungssystem.

Die Deutsche Bahn und ihre Stuttgart-21-Projekttochter scheinen das nicht zu begreifen. Dabei ist die Frage nach dem Warum leicht beantwortet: Ihre Selbstüberschätzung – Nemesis hätte von Hybris gesprochen – wird bestraft. Darüber muss sich bei der Bahn und ihrem Besitzer, der Bundesrepublik Deutschland, niemand wundern. Warnungen davor, das Kerngeschäft aus dem Auge zu verlieren und sich nur noch auf den schnellen Profit zu konzentrieren, gab es genug. Wie auch davor, in Stuttgart 21 nur ein städtebauliches Konzept zu sehen nach dem Motto: Wir verbannen die Eisenbahn in den Untergrund und alles wird gut.

Wenn die Lokführergewerkschaft die Republik mit Streiks überzieht, liegt das nicht nur daran, dass an ihrer Spitze ein wild gewordener Ossi steht. Sondern dass das Personal nicht mehr bereit ist, die Scherben aufzukehren, die ein Management hinterlässt, das wenig bis keine Ahnung hat.

Über Jahrzehnte wurde ein funktionierendes System an die Wand gefahren, weil die Verantwortlichen es nicht begriffen haben. Gleichzeitig wurden Milliardenbeträge für Prestigeprojekte verpulvert. Am dramatischsten zeigt sich dies an Stuttgart 21, einem Projekt, von dem wohl jeder die Finger gelassen hätte, hätte er gewusst, war für eine unendliche Geschichte auf ihn zukommt.

Die Ergebnisse der Schlichtung landeten im Papierkorb

Und sage keiner, man habe es nicht geahnt. Stuttgart 21 wurde wahrlich auf den Prüfstand gestellt, zwar mit Verzögerung, aber mit geballtem Sachverstand. Doch das vereinbarte neunte und zehnte Gleis und der empfohlene Ergänzungsbahnhof – ein kleiner Kopfbahnhof – landeten nach der Schlichtung im Papierkorb.

Jetzt hoffen in Stuttgart alle nur noch darauf, dass das Loch in der Mitte der Stadt endlich zuwächst. Gleichzeitig scheinen die Herausforderungen noch immer zu wachsen. Die Digitalisierung des Bahnknotens könnte Stuttgart 21 nochmals um Jahre verzögern. Im Gespräch ist nun, nur ein paar Züge durch den neuen Tiefbahnhof rollen zu lassen und den Rest über den bestehenden Kopfbahnhof abzuwickeln. Das allerdings hätte man billiger haben können.

Die Folgen sind nicht nur in der Landeshauptstadt mit den Händen zu greifen. Die Kapazitäten fehlen an anderer Stelle, etwa bei der Gäubahn. Ihr an und für sich lobenswerter Ausbau – einige Brücken werden erneuert, bei Horb entsteht auf sechs Kilometer Länge ein zweites Gleis – zieht sich derart in die Länge, dass die Fahrgäste in Scharen abwandern. Was da geschieht, ist das Gegenteil der von Verkehrsminister Winfried Hermann postulierten Verkehrswende.

Einen Hoffnungsschimmer gibt es jedoch: Die Deutsche Umwelthilfe klagt auf Umsetzung des Planfeststellungsbeschluss. Demnach darf die Gäubahn nach Inbetriebnahme des Tiefbahnhofs nur für wenige Monate unterbrochen werden. Und nicht für Jahre, wie dies beim Bau eines Tunnels von Böblingen zum Flughafen der Fall wäre. So könnte der Ergänzungsbahnhof doch noch kommen. Quasi durch die Hintertür.

In acht statt 27 Minuten am Flughafen

Dann sähe die Eisenbahninfrastruktur in Stuttgart schon wieder freundlicher aus. Denn man darf nicht übersehen: Die Investition von 11,5 Milliarden Euro, die das Projekt Stand heute kostet, bringt ja auch einiges, wenn die Züge einmal rollen. Eine Halbierung der Fahrzeit nach Ulm, in acht statt 27 Minuten am Flughafen und nicht zuletzt Platz für einen neuen Stadtteil. Die Stadt, das Land und die Bahn dürfen sich jetzt nur nicht die Zukunft verbauen.

Dasselbe gilt auch für den Bahnkonzern: Er kann es sich gar nicht leisten, jene zu vergraulen, die die Züge steuern – quer durch die Republik, zu jeder Tages- und Nachtzeit und für den Bruchteil eines Managergehalts. Man muss Claus Weselsky nicht mögen, darf aber durchaus anerkennen, dass er das System Bahn begriffen hat, auch wenn er im Moment maßlos überzieht. Und man sollte seinen Leuten mit Respekt begegnen.

Damit dürfte auch Nemesis einverstanden sein. Zumindest, wenn sie eine weitere Eigenschaft hat, die man ihr im alten Griechenland zuschrieb: Sie galt als die Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit.

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