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Cem oder: Warten auf ein grünes Wunder
Rot am See. Keine Blasmusik, kein Humtata und Tätärä, sondern die „Urban Brass“-Band, die mit Falcos „Amadeus“ die Halle in Wallung bringt. Es ist wieder „Muswiese“, der Traditionsjahrmarkt im Hohenloheschen, dessen Anfänge bis ins zwölfte Jahrhundert zurückreichen. Draußen 120 Aussteller, ein Riesenrad und Riesentrecker von der Sorte, wie sie im Spätwinter durch die Republik rollte, vors Brandenburger Tor und am Aschermittwoch vor die Biberacher Stadthalle.
Drinnen im Festzelt, am Vorabend der Eröffnung, lädt der Anbauverband „Bioland“ zum Vortrag über Tierhaltung samt Diskussion. Und nicht weniger 2000 Zuhörer sind gekommen. „Wir sind nicht alle öko“, sagt ein Jungbauer in der Schlange vor dem Wurststand, „wir wollen selber sehen, wie er so ist.“
„Der will Ministerpräsident werden“, sagt ein Landwirt
Er ist der Bundeslandwirtschaftsminister. Seit Wochen wird erwartet, dass Cem Özdemir sich offiziell um die Spitzenkandidatur bei der Landtagswahl im Jahr 2026 bewirbt. An einem der vielen langen Biertische ist diese Sache längst gelaufen. „Der will Ministerpräsident werden“, verkündet ein Landwirt, die Umsitzenden nicken. Ministerpräsident wird hier, im Nordosten Baden-Württembergs, Minischderpräsident ausgesprochen. Das weiß der gebürtige Uracher natürlich auch, und sogleich verfällt er in jenen Dialekt, der ihn seit so vielen Jahren als „anatolischen Schwaben“ ausweist.
Nina Warken, Generalsekretärin der Landes-CDU, interpretiert den für ihre Partei so erfreulichen jüngsten Baden-Württemberg-Trend mit 34 Prozent im Vergleich zu nur noch 18 Prozent für die Grünen als Ausweis, dass „die Bürgerinnen und Bürger offenbar die Neuausrichtung der Grünen zu einer opportunistischen Ein-Mann-Bewegung mit Robert Habeck im Bund und Cem Özdemir im Land nicht gut finden.“
Der Applaus nach dem fast einstündigen Parforce-Ritt durch die aktuellen und keineswegs nur Agrar-Themen klingt anders. Weder Buhrufe noch Pfiffe, keine Aggressivität, sondern eher die hoffende Erwartung auf finanziellen Ausgleich für Umwelt- oder Naturschutz, auf Herkunfts- und Haltungskennzeichnung und die Verantwortung der Verbraucher. Zustimmung zur Kritik an den Vorgängern, die zu wenig getan haben für einen Umbau der heimischen Landwirtschaft, dafür, dass Familien ihr Auskommen mit dem Einkommen haben.
Und das, obwohl Geld vorhanden gewesen wäre. „An die Adresse derer, die gar nicht erwarten kann, dass der nächste Landwirtschaftsminister wieder ein Schwarzer ist“, wolle er nur sagen: „Wer glaubt, dass dann die nötigen Mittel fließen, der glaubt an den Weihnachtsmann.“ Vereinzelt Lacher, als Özdemir bekennt, er sei „nicht so eine Art Julia Klöckner mit anderer Frisur“, sondern packe an, gerade im Gegenwind: „Ich bin nicht der, der vom bequemen Weg kommt.“
Bequem ist derzeit gar nichts für die Grünen im erfolgsverwöhnten Stammland, wo sie sich nach jeweils über 30 Prozent bei den Landtagswahlen 2016 und 2021 schon auf dem Weg zur „Baden-Württemberg-Partei“ wähnten.
Zwar ist hier der Vorstand der Jugend nicht ausgetreten. Er drängt aber, wie Tim Bühler, der gerade erst neu gewählte Landessprecher des Nachwuchses sagt, „die Mitte nicht immer weiter nach rechts zu verschieben“. Auch andere prominente Abgänge sind bisher ausgeblieben, anders als zum Beispiel in Berlin, wo ausgerechnet im Wahlkreis Friedrichhain-Kreuzberg, dem ersten, den die Grünen dank Christian Ströbele direkt eroberten, ein harter Schnitt zu verzeichnen ist. Dort kehrt die Ströbele-Nachfolgerin Canan Bayram der Partei den Rücken, nicht ohne zuvor ihre Unzufriedenheit über die Entwicklung zu Protokoll zu geben. Entscheidungen der Bundestagsfraktion widersprächen programmatischen Grundsätzen, so Bayram.
Wie andere, gerade in Baden-Württemberg, die Bundestagsfraktion wahrnehmen und welche ein Spagat auf Özdemir zukommt, dafür steht Gerlinde Kretschmann. Die frühere grüne Sigmaringer Stadträtin koffert – sicher nicht ohne Wissen ihres Winfrieds – gegen die Abgeordneten in Berlin: „Wir haben keine Freunde an denen.“
Die Fraktion sei „furchtbar“, so die 77-Jährige auf einer Diskussionsveranstaltung in der Vorwoche, denn „die machen reine Minderheitenpolitik und reine Katastrophenszenarien“. Wen wundert’s, dass sich die CDU die Verbreitung dieser Einschätzung nicht entgehen lässt. „Gerlinde Kretschmann bringt auf den Punkt, was viele Menschen über die Grünen im Bund denken“, postet der Landesverband auf der Homepage und in Facebook, „wir brauchen keine Ideologen, sondern Realisten, die die Probleme in unserem Land erkennen und dementsprechend handeln.“
In der grünen Landesgeschäftsstelle in der Stuttgarter Marienstraße schlägt der Zwist um die Ausrichtung der Partei zumindest noch keine hohen Wellen. „Die Mitgliederentwicklung ist weiter leicht positiv“, sagt Sprecherin Theresa King auf Staatsanzeiger-Anfrage. Rund 18.400 sind es, fast das Doppelte wie 2011, dem Beginn der Ära Winfried Kretschmann.
Inhaltlich jedoch stellen nicht einmal die Landesvorsitzenden Lena Schwellling und Pascal Haggenmüller ein gutes Zeugnis aus, wenn sie in Reaktion auf die miserablen Umfragewerte aufrufen, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, „thematisch wieder stärker in die Offensive zu kommen und darüber zu sprechen, warum wir so nötig sind“. Schwelling liefert die Antwort gleich mit: „Nur wir Grüne verbinden die dringend notwendige Sicherheitsbotschaft mit einem klaren Zukunftsversprechen.“
Zu Özdemirs Erfolgsaussichten hält sich die Landesspitze weiter bedeckt, die offizielle Erklärung steht, wie jene seines erwarteten Konkurrenten, CDU-Partei- und Fraktionschef Manuel Hagel, noch aus. Ein Promi mochte schon im Sommer mit seiner Meinung dennoch nicht hinter dem Berg halten. Dieter Salomon, ehemaliger Freiburger OB, den Kretschmann vor fünf Jahren erfolglos zu überzeugen versuchte, doch seine Nachfolge anzutreten, hat die Chancen des Parteifreundes bereits taxiert. Baden-Württemberg „ist ein konservatives Land“, er wisse, „wie Leute hier so ticken“. Wenn man Özdemir heiße, sei das in Stuttgart und Freiburg kein Problem, denn es interessiere niemanden, dass er türkische Wurzeln hat. Aber darüber hinaus „ist das nicht so einfach, wie sich manche Grüne das vorstellen“.
Auf der „Muswiese“ sind die türkischen Wurzeln kein Thema, auch nicht in den vielen persönlichen Gesprächen, der Hauptredner nach seinem Auftritt absolviert. Der Agrardiesel ebenso nicht, dafür aber die Neuausrichtung der europäischen Landwirtschaftspolitik zugunsten kleinerer Betriebe oder der Wunsch, „die Zettelwirtschaft“ zu beenden, ohne die es keine Förderung gebe. „Mehr Planungssicherheit muss her“, appelliert ein Bauer an den Minister, „nicht nur über ein paar Jahre, sondern für die nächste Generation.“ Nur so sei ein Überleben zu sichern.
Eine halbe Stunde braucht Özdemir, um aus dem Festzelt zu kommen
Der Angesprochene spielt den Ball zurück und bittet um Unterstützung bei seinem Kampf um mehr Geld und mehr Regionalität, zum Beispiel in Kantinen und Gasthäusern, um eine klarere Kennzeichnung, mehr Tierwohl oder auskömmliche Milchpreise: „Da müsst ihr Druck von unten aufbauen.“
Eine gute halbe Stunde braucht er, um nach seinem Auftritt überhaupt aus dem Festzelt zu kommen. Ein freundliches Wort da, eine strenge Bitte dort. „Arbeitet doch endlich in allen Parteien zusammen für uns“, fordert ein Zuhörer. Ein Spitzname macht die Runde, der Özdemir in Berlin zugeschrieben wird: „Der Zauberer von Öz.“ Ohne Zauberstab werde die nächste Landesregierung nicht grün geführt sein, heißt es. Geduldig steht der Bundeslandwirtschaftsminister für Selfies zur Verfügung.
Dann, draußen in der ziemlich kalten Hohenloher Nacht, wartet noch ein besonders Erlebnis: Eine regional bekannte und beliebte Altbäuerin, Luise Wirsching aus Spielbach, ihres Zeichens Fachfrau für Obstbaumschnitt, will sich den „hohen Gast“ vorknöpfen. Ob er wirklich Ministerpräsident werden wolle, möchte sie wissen und wartet die Antwort erst gar nicht ab, sondern sprudelt gleich los mit ihren Ratschlägen: Dann müsse er „bei de Leut‘ bleibe und nur koine falsche Versprechonge mache wie andere“. Denn: „Des isch sehr gefährlich, vor allem in onserer heitigen Zeit.“
Jahrmarkt seit 1434
Urkundlich erwähnt ist der Jahrmarkt in Musdorf, das schon lange zu Rot am See gehört (Landkreis Schwäbisch Hall), offiziell erstmals 1434. Die Verantwortlichen der „Muswiese“ sprechen von einem „der wichtigsten süddeutschen Branchentreffen“. Im vergangenen Jahr wurden an den sechs Tagen, die mit einem Riesenfeuerwerk enden, insgesamt 250 000 Besucher gezählt.