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Bloß kein weiterer Lockdown an der Grenze zur Schweiz
Vielleicht muss man das Ganze durch die Brille von Dominic Böhler betrachten. Böhler ist parteiloser Bürgermeister von Jestetten , einer 5000-Einwohner-Gemeinde im Landkreis Waldshut in einmaliger Lage: In drei der vier Himmelsrichtungen stößt sie an die Schweiz an. Nur im Westen gibt es einen schmalen Korridor, der Jestetten über deutsches Gebiet mit dem übrigen Landkreis verbindet.
Böhler hat sich in Vorbereitung unseres Gesprächs bei seinen Einzelhändlern erkundigt, die einen Großteil ihres Umsatzes mit Schweizer Kunden machen. Ergebnis: Bei den Lebensmittelhändlern – Jestetten hat einen Edeka, einen Rewe, einen Aldi und einen Penny – sind die Umsätze wieder auf Vor-Corona-Niveau und dies bei höheren Preisen. Die Modeläden haben dagegen hat den früheren Stand noch nicht erreicht.
Die Schließung der Grenzen im Frühjahr 2020, die Böhler, der seit 2021 Bürgermeister ist, noch als Hauptamtsleiter im benachbarten Lottstetten erlebte, war der große Schock für die Menschen hier. Plötzlich hielt die Schweizer S-Bahn nicht mehr in Jestetten und Lottstetten. Schüler, die das Gymnasium in Singen besuchten, mussten einen zeitraubenden Umweg in Kauf nehmen. Die Menschen dies- und jenseits der Grenze waren erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder getrennt.
Dann war Corona vorbei, und alles war wie zuvor. Oder beinahe. Denn eine andere Katastrophe lief so geräuschlos ab, dass viele sie nicht mitbekamen. Auch Böhler zuckt bei dem Stichwort mit den Achseln.
Rahmenabkommen nimmt der Schweiz ein Stück Souveränität
Dieses Stichwort heißt Rahmenabkommen . Es sollte die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU auf neue Füße stellen. Ein Automatismus sollte dafür sorgen, dass alle bisherigen Abkommen stets auf dem neuesten Stand bleiben. Der freie Personen- und Warenverkehr wäre so auf Dauer gesichert worden – allerdings um der Preis, das die Schweiz auf ein Stück Souveränität verzichtet.
Doch am 26. Mai 2021 brach die Schweiz nach sieben Jahren die Verhandlungen ab. Seither herrscht ein Schwebezustand, der nichts Gutes verheißt. Denn jedes der zahlreichen Einzelabkommen hat ein Verfallsdatum. Sobald dieses überschritten ist – das droht zunächst bei Medizinprodukten, Maschinen und Energie – „werden die Auswirkungen in der deutsch-schweizerischen Grenzregion unmittelbar spürbar sein“.
Das formuliert einer, der ebenfalls mit den Achseln zuckt, wenn er auf das Rahmenabkommen angesprochen wird, jedoch aus anderen Gründen. Andreas Schwab, Christdemokrat aus Rottweil, ist der Schweiz-Experte im EU-Parlament. Auf die Frage, wie er die Chancen beurteilt, dass es in absehbarer Zeit zu einem Rahmenabkommen kommt, über das neuerdings wieder verhandelt wird, antwortet er: „Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.“ Schuld sei primär das politische System der Schweiz: Für die Minister, die in Bern Bundesräte heißen, „gibt es kaum Anreize, mutige Entscheidungen zu treffen“.
Schwab ist mit seiner Einschätzung nicht allein. Viele kluge Köpfe verzweifeln schier daran. Die Süddeutsche Zeitung bringt es so auf den Punkt: „Der Bundesrat schaut auf das Parlament, das Parlament schaut auf das Volk und das Volk wieder auf den Bundesrat. Die Verantwortung wird hin- und hergeschoben – und am Ende wagt man: nichts.“
Pendler müssen auf eine Entscheidung warten
Das Fatale daran ist: Die Menschen, die an der Grenze leben und über sie pendeln – allein 60 000 von Deutschland in die Schweiz –, können so gut wie nichts dagegen tun. Sie müssen hoffen, dass sich die Verantwortlichen in Bern, Brüssel und Berlin berappeln. Auch die Landesregierung in Stuttgart kann kaum mehr als gut Wetter machen. Zumal bei den Parlamentswahlen im Oktober ausgerechnet jene Partei gestärkt wurde, die die Schweiz am liebsten aus allem heraushalten würde, was die Welt kompliziert macht: die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei.
Besonders hohe Gewinne verzeichnete die SVP am Hochrhein. Dennoch macht sich Manfred Weber (CDU) , Bürgermeister der 5500-Einwohner-Gemeinde Küssaberg , deswegen keine Sorgen. Mit seinen SVP-Amtskollegen von der anderen Rheinseite verstehe er sich bestens. Die kürzlich wiedereingeführten stationären Grenzkontrollen bewegten sich „in vertretbarem Rahmen“. Und auch aus dem Fluglärmstreit ist ein wenig die Luft raus nach Corona. Bleibt noch der Wunsch, in die Endlagersuche der Schweizer besser eingebunden zu werden. Trotzdem: Man lebt im Windschatten der großen Politik offenbar ganz ordentlich.
Es darf nur nicht zum Knall kommen. Die deutsch-schweizerischen Grenzbeziehungen sind so eng und sensibel, dass sie nach Corona keinen weiteren Lockdown vertragen.