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Herrenberger Gespräche

Autoritäre Versuchungen und die Mühen der Demokratie

20,8 Prozent der Wähler haben bei der Bundestagswahl der AfD ihre Stimme gegeben, doppelt so viele wie 2021. Ist diese Partei eine Gefahr für die Demokratie? Und wenn ja: Kann sie verboten werden? Darüber debattierten am Montag vier Experten bei den vom Staatsanzeiger und der Diakonie veranstalteten „Herrenberger Gesprächen“.

Staatsanzeiger-Chefredakteur Rafael Binkowski (links) und Carsten Beneke von der Diakonie sind die Erfinder und Moderatoren der „Herrenberger Gespräche“.

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Herrenberg. „Wie krisenfest ist unsere Demokratie?“ Diese Frage stand nicht nur über dem Vortrag von Malte Graßhof, Präsident des Verfassungsgerichtshofs, sondern über der vierten Auflage der „Herrenberger Gespräche“, die von Rafael Binkowski, Chefredakteur des Staatsanzeigers, und Carsten Beneke vom Haus der Diakonie moderiert wurden.

Graßhof: Die aktuelle Situation ist mit der von 1933 nicht vergleichbar

Für den obersten Richter im Südwesten ist eines klar: Die aktuelle Situation ist mit der von 1933 nicht vergleichbar. Der wesentliche Unterschied: Es habe im Jahr, als Weimar endete und die NS-Gewaltherrschaft begann, keine staatstreue Beamtenschaft gegeben. Sie sei in großer innerer Distanz zur Republik gestanden. Dagegen seien Beamte und Richter von heute „demokratisch-grundrechtlich durchtränkt“.

Doch auch 2025 sei die Lage problematisch. Viele Menschen machten sich Sorgen, „weil das Gemeinwesen nicht mehr funktioniert“. Unternehmen erstickten an Bürokratie, die Bahn sei nicht zuverlässig, und viele Menschen dächten: „Wir brauchen jemanden, der entscheidet, der durchregiert.“

Der Jurist, der viel im Land unterwegs ist – auch um den Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg, den nicht jeder kennt, den Menschen näherzubringen – erzählte, wie ihn einmal ein Ingenieur angesprochen habe, der lange in China gelebt hatte. Was er, Graßhof, von einer Regierungsform hielte, in der es ähnlich effizient zugehe wie im Reich der Mitte. Damit man ihn nicht falsch verstehe, fuhr der Ingenieur fort: Er sei für das Grundgesetz. Doch vielleicht könne man auch beides haben.

Graßhof sprach in diesem Zusammenhang von „autoritären Versuchungen“ und beklagte die „fehlende Bereitschaft, das mitzutragen, was die Demokratie ausmacht Unsicherheiten, Unklarheit, Konflikte“.

Auch zu einer anderen Frage, die angesichts der Wahlerfolge der AfD derzeit viele Menschen bewegt, nahm der Verfassungsrechtler Stellung: Wie soll der Staat mit einer Partei umgehen, die in Teilen erwiesenermaßen rechtsextrem ist? Darf so eine Partei vom Verfassungsschutz beobachtet werden? Kann, ja muss sie vielleicht sogar verboten werden?

Der Richter schickte voraus, dass er qua Amt zu politischer Neutralität verpflichtet sei, zumal die Beobachtung durch den Verfassungsschutz dieser Tage vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart verhandelt werde. „Ich werde nie meine private persönliche Meinung sagen, sondern versuchen zu erklären, was die Verfassung sagt“, sagte Graßhof, der nicht nur dem Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart, sondern auch dem Verwaltungsgerichtshof in Mannheim vorsteht.

Doch dann gab er einige wertvolle Hinweise. Er erinnerte daran, dass in den 1950er-Jahren zwei Parteien verboten wurden, eine NSDAP-Nachfolgepartei und die KPD, beide allerdings zu einem Zeitpunkt, als sie keine große Bedeutung mehr spielten. Anschließend sei zwei Mal versucht worden, die NPD zu verbieten. Einmal sei es daran gescheitert, dass nicht mehr klar erkennbar war, welche der vom Verfassungsschutz gesammelten Indizien tatsächlich auf die NPD und welche auf staatliche V-Männer zurückgingen. Beim zweiten Mal sei die NPD schlicht zu bedeutungslos gewesen, um ein Parteienverbot zu rechtfertigen.

Graßhof stellte auch infrage, ob ein Parteienverbot im Fall der AfD sinnvoll wäre. Viel wichtiger sei es, dass die Politik einen guten Job macht, damit die Menschen wieder Vertrauen in sie finden. Und er äußerte einen Wunsch an alle Anwesenden: „Wenn Sie und wir alle unsere Gesellschaft die Demokratie sicherer machen wollen gegen autoritäre Verführungen“, dann solle doch jeder seinen Kindern Zugang zu seriösen Medien verschaffen, zum Beispiel den Öffentlich-Rechtlichen oder Tageszeitungen. „Damit können wir alle ein bisschen an der Demokratie arbeiten.“ Diesen Ball griff Staatsanzeiger-Chefredakteur Rafael Binkowski gerne auf. „Das kann ich nur unterstreichen: Zeitunglesen bildet.“

Ähnlich argumentierte Verfassungsrichter Graßhof, was die Frage einer Grundrechtsverwirkung angeht, die immer wieder in der Diskussion über den Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke aufkommt. Ein Verbot könne „der Ritterschlag für den Extremisten“ sein. Der entsprechende Grundgesetzartikel sei in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie angewandt worden. Es bestehe die Gefahr, dass die betroffene Person sich quasi geadelt fühlt nach dem Motto: „Ich bin der Erste in der Geschichte der Bundesrepublik.“ Dies sei auch eine politische Frage. Man müsse die wehrhafte Demokratie auch nüchtern sehen. Die Institutionen unseres Staates seien sehr widerstandsfähig.

Anschließend wurde das Publikum – etwa 150 Besucher hatten den Weg ins Katholische Gemeindezentrum St. Martin gefunden – eingebunden. Fragen waren zu hören wie „Warum dauert ein Parteiverbotsverfahren so lang?“ oder „Gibt es ein Recht auf Widerstand, wenn die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdet ist?“

Auch da bremste der Verfassungsrichter. „Ich fürchte, ich gieße ein bisschen juristisches Wasser in den politischen Wein.“ Eine Demokratie lebe vom politischen Wechsel und auch extreme Meinungen müssten geduldet werden, wenn sie nicht gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstießen. Und von einem Recht auf Widerstand könne in der jetzigen politischen Situation überhaupt keine Rede sein.

Der Richter war nicht er einzige Hochkaräter auf dem Podium. Mit ihm stritten Anna Ohnweiler, Bundesvorsitzende des Vereins „Omas gegen Rechts“, Gisela Meister-Scheufelen, Vorsitzende des Präsidiums des Diakonischen Werks Württemberg und Niklas Donth, Experte für Wählerverhalten und Rechtspopulismus, Universität Stuttgart.

Meister-Scheufelen rät, sich an Dänemark ein Beispiel zu nehmen

Nach Ansicht von Anna Ohnweiler höhlt die AfD die Demokratie von innen aus. Alice Weidel passe genau auf, was sie sagt. Die Botschaften der Rechtspopulisten stünden zwischen den Zeilen. Der Weg bis zum Verbot werde ein weiter sein. Man dürfe beim Thema Migration nicht alles in einen Topf werfen. Es gebe Menschen, die illegal ins Land kommen und solche, die wirklich Asyl brauchten. „Und das muss man wirklich voneinander trennen“, sagte die „Oma gegen rechts“ und erntete donnernden Applaus.

Der Wissenschaftler Niklas Donth bezeichnete das Parteienverbot die Ultima Ratio, „die letzte Kugel“, die einer Demokratie bleibt. Außerdem lösten sich damit die Präferenzen der Wähler nicht in Luft auf. Im Gegenteil; Gerade das Verbot könne die Partei noch attraktiver machen.

Für die ehemalige CDU-Staatssekretärin Gisela Meister-Scheufelen dagegen ist ein Verbot der AfD nur eine Frage der Zeit. Doch dies dürfe nicht die einzige Antwort darauf sein, dass jeder fünfte Wähler am 23. Februar sein Kreuz bei den Rechtspopulisten gemacht hat. Man müsse „an die Ursachen herangehen, warum 10,3 Millionen Menschen in Deutschland die AfD wählen“.

Sie empfehle den Blick nach Dänemark. Dort seien die Rechtspopulisten zur Splitterpartei geschrumpft, nachdem sie vor ein paar Jahren noch mehr als 20 Prozent der Stimmen gewannen. Dies sei gelungen, „indem eine ganz konsequente strikte Migrationspolitik betrieben wurde“.

Dabei werde die Argumentation vor dem Bundesverfassungsgericht nicht einfach sein. „Das Parteiprogramm der AfD ist weichgespült“, sagte Meister-Scheufelen. „Das wird mit Sicherheit nicht ausreichend sein, um ein Parteiverbot zu begründen.“

Herrenberger Gespräche

Die „Herrenberger Gespräche“ sind eine Initiative des Staatsanzeigers, des Evangelischen Diakonieverbands im Kreis Böblingen, der evangelischen und der katholischen Kirchengemeinde Herrenberg. Bei der Erstauflage ging es im November 2023 um den Terror der Hamas, im März 2024 wurde über Antisemitismus diskutiert und im Oktober 2024 über Demokratie in Gefahr. Die vierte Veranstaltung an diesem Montag stand unter der Überschrift: „Wie umgehen mit Extremismus und Populismus?“ Auch der fünfte Termin steht schon fest. Es ist der 15. Oktober 2025. Dann kommt der streitbare Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos).

Verfassungsrichter Malte Graßhof sieht derzeit nicht die Gefahr, dass sich 1933 wiederholt. Foto: DANIELFOLTIN.COM
Die vierte Auflage der Herrenberger Gespräche zum Thema „Extremismus und Populismus“ verfolgten 150 Besucherinnen und Besucher. Foto: DANIELFOLTIN.COM

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