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Die Oper „Sancta“ polarisiert – was zu erwarten war
Stuttgart. Die einschlägigen Medien haben davon berichtet: 18 Besucher der Opernperformance „Sancta“ mussten vergangenes Wochenende im Opernhaus in Stuttgart von Sanitätern wegen „Übelkeit und Schockzuständen“ versorgt, in drei Fällen sogar ein Arzt hinzugezogen werden.
Die Auslöser dieser in der Oper eher ungewöhnlichen Reaktionen wurden ebenfalls ausgemacht: Das Dargestellte, will heißen das viele nackte Fleisch weiblicher Körper, die sexualisierten lust- wie auch gewaltvollen Handlungen, eingebettet in religiöse Bilder und katholischer Symbolik. Die Musik scheint dabei eher Nebensache. Der Skandal ist perfekt. von der rechtslastigen Medienwelt wird gewettert und von „Christenhass“, „unglaubliche Beleidigung“ und „linksgrüne Kulturaggression“ gesprochen. Aber auch von anderer Seite gibt es Kritik, besonders an der rohen Darstellung von Gewalt, wenn etwa auf offener Bühne ein Stück Haut heraus geschnitten wird.
Die Vertreter der demokratischen Parteien halten sich offiziell lieber zurück. Der Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes, nach eigenen Aussagen „ebenso bekennender wie kritischer Fan der Stuttgarter Oper“, bezieht dagegen Position (siehe Statement). Er hat sich bereits im Vorfeld der Aufführung in Stuttgart mit dem Thema auseinandergesetzt. In einer Podiumsdiskussion mit dem Titel „Auf den Leib gerückt“ Ende September in der Staatsgalerie sprach er mit der Choreografin und Regisseurin von „Sancta“ Florentina Holzinger über Grenz- und Leibeserfahrungen in Religion und Performance Art.
Vorlage ist Paul Hindemith‘ einaktige Oper „Sancta Susanna“
Klar war: Ein beschaulicher Ausflug in die Opernwelt wird diese Produktion, die in Kooperation mit dem Mecklenburgischen Staatstheater, den Wiener Festwochen sowie der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin entstand, nicht.
Schließlich ist die Wiener Choreografin und Performancekünstlerin Florentina Holzinger bekannt für ihre kompromisslosen, provokativen, oft grenzüberschreitenden Darstellungen, eben auch von nackten Tatsachen. Außerdem wurde das Opern-Performance-Stück bereits in Schwerin und Wien gezeigt und ausführlich in den Medien diskutiert. Vorlage von „Sancta“ ist Paul Hindemith‘ einaktige Oper „Sancta Susanna“ mit dem Libretto des Dichters und Dramatikers August Stramm. In dieser geht es um das sexuelle Erwachen einer Nonne und die Sanktionen ihres Umfelds. Die Aufführung der 1921 fertiggestellten Oper wurde in Stuttgart als „gotteslästerlich“ abgelehnt, ihre Uraufführung im März 1922 in der Frankfurter Oper geriet zum Skandal. „Obszön“ sei sie, „pervers“ und „unsittlich“, hieß es.
Wie zu erwarten setzt Holzinger, zu deren Company Performerinnen mit tänzerischer Ausbildung, Stuntfrauen, Sexarbeiterinnen, Piercerinnen, und Martial-Arts-Künstlerinnen gehören, bei ihrer Adaption noch eins drauf. In „Sancta“ sind Frauen ganz „ohne“ zu sehen, Rollerblades fahrend mit wehenden Nonnenhauben auf dem Kopf, als Klöppel in einer Klocke schwingend oder am stilisierten Kreuz sich mit einer Gespielin der sexuellen Lust hingebend. Die Musik bleibt dabei nicht bei Hindemith, auch Bach, Rachmaninow, die Weather Girls und Metal untermalen das Geschehen auf der Bühne. Das, was manch einen Besucher im Stuttgarter Opernhaus auf den Magen geschlagen sein dürfte, war vermutlich aber weniger das geballte nackte Fleisch, die sexuellen Handlungen und die offensichtliche Blasphemie, denn die brutalen, auch blutigen Akte, die die Zuschauenden auf der Leinwand „hautnah“ mitverfolgen können. Was im TV und Internet tagtäglich und geballt stattfindet, kommt in der Oper eher unerwartet. Daher auch die Altersfreigabe erst ab 18 Jahren und ausführliche Triggerwarnungen seitens der Württembergischen Staatstheater am Telefon sowie im Internet. Man wusste also, worauf man sich einlässt.
Im Internet und am Telefon gab es Triggerwarnungen vom Theater
Die Warnung scheint indes nicht alle erreicht zu haben. Oder sie wurde nicht ernst genommen. Nun wird skandalisiert. Radikalere Stimmen stellen gar die Kunstfreiheit zur Disposition − mal wieder, miteinander reden scheint für einige keine Option. Das Team müsse „mit Gewaltdrohungen und Hatespeech von Fanatikern und Dogmatikern umgehen“, schreibt auch Holzinger auf ihrem Instagram-Account.
Andere aber feiern „Sancta“, manche Rezensionen wie etwa im „Opernfreund“ muten fast hymnisch an. Kunststaatssekretär Arne Braun (Grüne) war in der Premiere: „Diese Fragen nach Spiritualität, Glaube, Gemeinschaft und Rolle der Geschlechter müssen verhandelt werden, immer wieder aufs Neue, auch auf der Bühne“, sagt er. „Das ist die Idee hinter der Freiheit von Kunst, und hier zeigt sich, dass wichtiger Bestandteil der Kunst Provokation, Anmaßendes, Schockierendes ist.“ Durch die drastische Inszenierung ergebe sich eine große Chance: „Lasst uns über Wert und Grenzen der Kunst streiten − konstruktiv und lustvoll.“ Man solle über die Inhalte sprechen. Und: „Ganz banal: Wer sich das nicht anschauen will, bleibt bitte weg.“
Die kommenden Vorstellungen sind jedenfalls ausverkauft, selbst in Berlin, wo das Stück als nächstes Station macht. Eines ist offensichtlich: Das Stück polarisiert maximal.
Pro: Opernintendant Viktor Schoner „Aufführungen waren ein Erfolg“
Contra: Stadtdekan Christian Hermes „Theater trägt Verantwortung für die mentale Gesundheit des Publikums“