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Wie Kommunen die Kraft der Besserwisser nutzen
Stuttgart. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, investieren Kommunen jedes Jahr viele Milliarden in Energieversorgung, Klimaanpassung, Verkehrswege, Baugebiete, Bildungseinrichtungen, Kindergärten oder medizinische Versorgung. Sie gestalten damit die Lebensbedingungen der Bürger, die immer öfter mitreden und mitentscheiden wollen. Sie organisieren sich und vertreten ihre Interessen sehr selbstbewusst. Soziale Medien helfen bei der Mobilisierung.
Wer Projekte am Bürger vorbei plant, muss laut Bertelsmann Stiftung Verzögerungen oder sogar das komplette Scheitern von Vorhaben in Kauf nehmen. Schlimmstenfalls zulasten des lokalen Wohn- und Wirtschaftsstandortes dem ohne leistungsfähige soziale und technische Infrastruktur negative Folgen für Wachstum und Wohlstand drohen.
Bessere Entscheidungen durch verschiedene Sichtweisen
In ihrem Papier „Vom Besserwissen zum Bessermachen“ rät die Bertelsmann Stiftung Politik und Verwaltung den gestiegenen Ansprüchen nach Informationen, Transparenz und Mitbestimmung Rechnung zu tragen. Bürger müssten künftig früher und ausführlicher bei grundlegenden Fragen von Projekten zum „Ob“, „Wo“ und „Wie“ einbezogen werden. Ein Weg dazu sind deliberative oder auch dialogorientierte Beteiligungsmodelle. Neben gängigen Formaten wie Bürgerforen, Planungszellen oder Town-Hall-Meetings, umfassen sie so innovative Varianten wie Trambahn Talks, Barcamps und bedarfsorientierte Interviews.
Nach Auskunft von Manuel Neumann, Politikwissenschaftler an der Uni Mannheim, bezeichnet Deliberation eine auf den Austausch von Argumenten angelegte Form der Entscheidungsfindung auf gleicher Augenhöhe. Ziel sei bessere Entscheidungen unter Einbezug verschiedener Sichtweisen zu treffen. „Überzeugen soll das bessere Argument und nicht die Mehrheitsabstimmung“, so der Experte. „Im Idealfall werden alle Positionen, Überlegungen und Informationen gegeneinander abgewogen und dadurch eine Einigung auf ein tragfähiges Ergebnis ermöglicht.“ Das Resultat kann ein Konsens, das Aufzeigen unterschiedlicher Positionen oder das gezielte Beleuchten von Konflikten sein, sagt Neumann.
Solche durchaus konfrontativen Ansätze, bei denen sehr wohl auch kontroverse Ansichten aufeinandertreffen oder sich gezielt Konfliktparteien wie Landwirte, Naturschützer oder Bauträger einbinden lassen, setzen Ergebnisoffenheit voraus. Auch Entwicklungs- und Lernbereitschaft sind gefragt. Ebenso eine neutrale Moderation, die auch in aufgeheizten Momenten für einen fairen, wertschätzenden Dialog sorgt und Beteiligten die Angst vor sozialen Konflikten nimmt. „Es geht also nicht darum Interessen abzufragen und gegeneinander abzustimmen, sondern eine Verständigung und Klärung zwischen unterschiedlichen Positionen zu erreichen“, betont der Forscher.
Die Bürger als Experten ihrer Lebensumwelt ernst nehmen
Laut Arne Pautsch, Professor an der Verwaltungshochschule Ludwigsburg, können deliberative Ansätze direktdemokratische Verfahren sinnvoll erweitern. Abstimmungsberechtigte können durch Bürgerentscheide über eine kommunalpolitische Sachfrage mit „Ja“ oder „Nein“ entscheiden. Bereits beschlossene Maßnahmen lassen sich so verhindern, verändern oder ersetzen, was zu hohen Kosten und erheblichen Verzögerungen führen kann.
„Hier kann Deliberation zum Beispiel als Verfahren vor der Abstimmung die Beteiligten dabei unterstützen, einvernehmliche Ansichten auszuhandeln“, erklärt Pautsch. Wichtig dabei ist Authentizität.
Dazu gehört, die Teilnehmer über die Möglichkeiten und Grenzen von solchen informellen Beteiligungsformen aufzuklären, die gesetzlich nicht verankert sind. „Der Gemeinderat ist als alleinige politische Vertretung der Bürger nicht verpflichtet, die Ergebnisse umzusetzen und entscheidet allein über die Angelegenheiten der Gemeinde“, betont der Jurist. Trotzdem: „Wer Beteiligungen initiiert, muss Bürger als Experten ihrer Lebensumwelt ernst nehmen und sich mit deren Blickwinkel, Ideen und Präferenzen befassen, um sie gegebenenfalls in Planungsverfahren, Zukunftskonzepte oder Haushaltsentscheidungen einfließen zu lassen.“
Dialogorientierte Formate, die heute vereinzelt in den Kommunen zum Einsatz kommen, gewinnen laut Arne Pautsch künftig an Bedeutung, da durch den galoppierenden Wertepluralismus Einzel- und Gruppeninteressen in der Gesellschaft vielfältiger werden.
Umfrage: Bürger wollen nicht selbst entscheiden aber mitreden
Eine 2022 von der Uni Hohenheim veröffentlichte Studie, an der 6500 Personen teilnahmen, zeigte: Zwei Drittel der Bürger wollen beteiligt und in Dialogformaten miteinbezogen werden. Gewählte Repräsentanten sollen aber nach wie vor Entscheidungen treffen. Nur ein Viertel bevorzugte direkte Demokratieformate. Die Mehrheit wünschte sich auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene eine Kombination aus repräsentativer Demokratie und Dialog. Die Bürger wollten nicht unbedingt selbst entscheiden, aber mitreden, so die Forscher.