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Rodung in Weil der Stadt: Was Naturschützer empört, ist für den VGH rechtmäßig

Die gefällten Obstbäume in Weil der Stadt liegen noch heute auf der Streuobstwiese. Bürgermeister Christian Walter erklärt, warum.
Zweygarth / Collage: Stapelfeldt)Weil der Stadt. „Wir haben nichts mehr angerührt“, sagt Christian Walter und hebt die Hände. Die Naturschutzverbände waren nach der Baumfällaktion fassungslos und forderten seinen Rücktritt. Auch die Umweltministerin zeigte sich irritiert, dass in zwei Stunden 120 Bäume gefällt wurden. Denn in solchen Fällen gibt es ein Agreement, dass die Eilverfahren abgewartet werden.
Nun hat auch der Verwaltungsgerichtshof bestätigt, dass die Obstbäume gefällt werden dürfen. Dass dies teilweise schon geschehen ist, habe bei der Entscheidung keine Rolle gespielt. Die Stadt habe plausibel gemacht, dass ein Wohnraumbedarf in Weil der Stadt aktuell bestehe und zukünftig bestehen werde, was den Erhalt des Streuobstbestands ausnahmsweise überwiege. Die Entscheidung ist unanfechtbar. „Ich bin erleichtert, der VGH hat so entschieden, wie wir das erwartet haben“, sagt Walter (parteilos).
2024 hatte das Landratsamt in Böblingen die Rodung genehmigt, die Verbände zogen dagegen vors Verwaltungsgericht Stuttgart, das die Sicht der Stadt bestätigte. Für Walter war das Anlass, die Baumfällaktion zu starten. Erst als die Zwischenverfügung vom VGH kam, stoppte die Stadt die Rodung. Seitdem liegen die Bäume auf der Wiese.
Walter hatte dafür einige Kritik einstecken müssen. Über die Rodung hatten Medien landesweit berichtet und der Bürgermeister musste sich rechtfertigen.
Walter hat das Projekt von seinen Vorgängern geerbt
An einem nebligen Morgen im Februar sitzt der 34-Jährige im einstigen Sitzungssaal des Gemeinderats. Die Sitze sind mit rotem Leder bezogen, die Wände mit dunklem Holz vertäfelt. Vom Rathaus aus sieht man das Denkmal Johannes Keplers, dem berühmten Sohn der „Keplerstadt“, der im späten Mittelalter die Laufbahn der Planeten berechnete.
Ein Buch könnte man über Häugern-Nord schreiben, sagt Walter. Das geplante Neubaugebiet ist der Konflikt um Artenschutz und Wohnbau, ausgetragen auf einer Streuobstwiese: Dokumentiert ist das Ganze auf knapp 1800 Seiten, die der Bebauungsplan umfasst. 1800 Seiten mit Gutachten, Stellungnahmen und Plänen für das Gebiet, in dem 800 Menschen leben sollen. Ausgedruckt für jeden der 26 Gemeinderäte verbrauche der Plan viereinhalb Bäume, rechnet der einstige Studienrat vor – zum Glück arbeite der Rat digital. Die Stadt ist mit vielen Gutachten und dem Kauf der Flächen finanziell in Vorleistung gegangen und zählt seit jeher zu den armen Kommunen.
Der Naturschutzbund (Nabu) und der Bund für Umwelt und Naturschutz Baden-Württemberg (BUND) wollen das Wohngebiet verhindern, weil es auf einer geschützten Streuobstwiese entstehen soll, noch dazu auf einer Flora-Fauna-Habitat (FFH)-Mähwiese – mehr Naturschutz geht kaum. Die Naturschützer wollen die Streuobstwiese erhalten, die obendrein einen „hochwertigen Baumbestand“ hat – beziehungsweise hatte. Hier leben unter anderen der bedrohte Grasfrosch, der Wendehals und der Marmorierte Goldkäfer.
Einzige städtebaulich und planungsrechtlich sinnvolle Fläche
Walter kann nicht nachvollziehen, weshalb die Verbände ausgerechnet Weil der Stadt zu einem Präzedenzfall machen wollten. Auch die Bürger könnten die Aufregung nicht verstehen, der Gemeinderat stehe hinter dem Projekt. „Dass die Umweltministerin irritiert war, ist ihr gutes Recht. Wir wundern uns auch über so manches Vorgehen vom Land“, sagt er. Nach Schätzungen der Verwaltung gebe es auf der Gemarkung 168 Hektar Streuobstbestände. Über die Hälfte der Gemarkungsfläche sei geschützt. Häugern-Nord sei die einzige städtebaulich und planungsrechtlich sinnvolle Fläche, in der ein Baugebiet infrage komme. Der Streuobstbestand erstreckt sich laut der Stadt auf gut drei Hektar, die Gegner sprechen von sieben Hektar.
Walter beugt sich über den Laptop mit der Präsentation, die er beim Neujahrsempfang vorgestellt hat. Dafür habe er viel Applaus bekommen. Der studierte Politikwissenschaftler hat die Fakten in einer Präsentation aufbereitet, in der er die Argumente der Gegner entkräften will – und das sind ganz schön viele. Für ihn grenzen die Argumentationsmuster der Gegner „an blanke Absurdität“.
Walter hat das Projekt von seinen Vorgängern geerbt. Viele Hürden seien Häugern-Nord in den Weg gelegt worden, sagt er und klickt durch die Folien. Die Planungen gehen ins Jahr 2012 zurück, drei Gemeinderäte haben sich damit beschäftigt. Der Aufstellungsbeschluss wurde 2017 verabschiedet. Doch 2020, im Jahr seines Amtsantritts, beschloss der Landtag den sogenannten Streuobstparagrafen. Nun musste das Landratsamt die Rodung von Obstbäumen auf Flächen ab 1500 Quadratmetern genehmigen. Der galt für alle Bauvorhaben, auch für Häugern-Nord, das schon in der Planung war.
Der BUND und der Nabu kritisieren, dass noch immer zu viele Wiesen gerodet und bebaut würden – trotz des Streuobst-Schutzes. Deshalb gehen sie regelmäßig gegen die Rodungsgenehmigungen vor.
Die Stadt musste nachweisen, dass sie Häugern-Nord wirklich braucht und das öffentliche Interesse für den Bau das Interesse am Erhalt der Natur überwiegt. Für Walter ist die Sache klar: Die Stadt liege als Unterzentrum an der S-Bahn-Strecke im Einzugsgebiet der Landeshauptstadt. Studien zur Bevölkerungsentwicklung würden die hohe Nachfrage nach Wohnraum belegen. Die Verbände zitieren eine Berechnung des Statistischen Landesamts, wonach die Bevölkerung in Weil der Stadt bis 2040 nur um 430 Personen wächst. Wie der VGH hatte auch schon das Verwaltungsgericht Stuttgart den Bedarf der Stadt bestätigt. Doch hat die Kommune auch wirklich alles getan, den Flächenfraß zu vermeiden? Nein, sagen die Gegner. Die Stadt habe ihre Hausaufgaben beim Nachverdichten nicht gemacht. Leerstände und Brachflächen seien noch ungenutzt.
Walter verweist auf einen Brief an die Eigentümer und die spärliche Resonanz darauf. Zwar gibt es knapp 270 leere Wohnungen oder ungenutzte Flächen, so eine Erhebung aus 2020. Doch auf die Fragebögen antworteten nur 17 Prozent.
Klage könnte Baugebiet erneut um Jahre verzögern
Doch die Gegner haben auch den Bebauungsplan für Häugern-Nord ins Visier genommen, weil die Planung der Stadt gegen den Naturschutz verstoße. Denn die neuen Häuser entstehen in der Nähe des Naturschutzgebietes Merklinger Ried. Stadt und Landratsamt haben eine Lösung zum Schutz der Wiese vor Regenwasser aus dem Wohngebiet samt dem Reifenabrieb gefunden. Ein Kanal soll das Wasser an einen Diffusor führen. Dieser reinigt und verteilt es, wo es im Naturschutzgebiet versickert. Die Verbände zweifeln jedoch, ob das System aus Mulden und Rigolen zur Filterung funktioniere. Walter argumentiert, dass künftig das Oberflächenwasser der angrenzenden Landstraße nicht mehr ins Ried abgeleitet würde. Außerdem würde die Versickerung garantieren, dass das Ried auch im Sommer genügend bewässert sei.
Am Ende seiner Präsentation hat der Bürgermeister viele Argumente seiner Gegner mit Daten und Zahlen gekontert. Warum hat er nicht mit der Rodung gewartet, bis der Streit von den Richtern entschieden wird? Schließlich hat er damit gegen die Vereinbarung verstoßen, in solchen Fällen keine Fakten zu schaffen.
„Es ging niemals darum, dem VGH inhaltlich vorzugreifen“, sagt der Bürgermeister. Doch es geht auch um Zeit, und die Naturschutzverbände wüssten das. Das belege die Tatsache, dass die Fristen stets ausgereizt würden. So reichten die Beschwerdeführer die Begründung vor dem VGH erst zum Jahresende ein. Tatsächlich wurde es Mitte Februar, bis die Richter entscheiden konnten.
Ob die verbliebenen rund 20 Bäume noch im Februar gefällt werden können, müsse mit der Naturschutzbehörde erörtert werden, so Walter. Weiterhin sei offen, ob – wie angekündigt – auch der Bebauungsplan durch die Naturschutzverbände beklagt wird. Dies könnte das Projekt erneut um Jahre verzögern.
Der Nabu zeigt sich enttäuscht über die Gerichtsentscheidung. Die Stadt habe „hartnäckig an ihrem Ziel festgehalten, dieses große Streuobstgebiet zu bebauen und nimmt damit in Kauf, dass wichtige Habitate und EU-weit geschützte Mähwiesen zerstört werden“. Für den Verband mit seinen ehrenamtlich Aktiven auf kommunaler Ebene stehe auch künftig der Schutz von Streuobstwiesen ganz oben auf der Agenda.
Was sagt Walter dazu, dass er mit einem Plus an 800 Einwohnern plötzlich Oberbürgermeister sein wird? Mit Häugern-Nord hätte Weil der Stadt die 20 000 Einwohner-Marke gerissen und könnte Große Kreisstadt werden. Er winkt ab: „Das ist nicht mein Antrieb und ich gehe davon aus, dass das in dieser Legislaturperiode keine Rolle mehr spielt“.
Das plant die Stadt im umstrittenen Baugebiet
Im Baugebiet Häugern-Nord in Weil der Stadt (Landkreis Böblingen) sollen einmal 800 Einwohner leben: 37 Einfamilienhäuser, 14 Doppelhaushälften mit 28 Wohneinheiten, fünf Reihenhäuser mit 15 Wohneinheiten und 27 Mehrfamilienhäuser mit 290 Wohnungen sollen auf der Streuobstwiese entstehen. Insgesamt sollen 370 Wohneinheiten gebaut werden.
Zudem plant die Keplerstadt in Häugern-Nord einen Lebensmittelmarkt, eine Kindertagesstätte und ein Hotel. Die Pläne gehen ins Jahr 2012 zurück.