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Stadtmarketing

Reutlingen beschimpft sich werbewirksam selbst

„Herzlich willkommen, und tut uns leid“ oder „Das REU in Reutlingen steht für bereuen“ – keine schmeichelhaften Sätze, mit denen Reutlingen Plakatwerbung für sich macht. Überregionale Aufmerksamkeit war der Stadt so sicher.

Für viele in Reutlingen waren die schwarzen Plakate mit Negativbotschaften über die Heimatstadt ein Hingucker, hier noch ohne den Aufkleber „Nur lieben“. Foto: dpa/Bernd Weißbrod

dpa/Bernd Weißbrod)

Reutlingen. Die Plakatwände mit Schmähwerbung sorgten für Diskussionen. Sollen Botschaften wie „Wir müssen leider mitteilen, du bist in Reutlingen“ am Bahnhof wirklich das Reutlinger Stadtimage aufpolieren? Wenn man bei der Leiterin des Stadtmarketings nachfragt, bekommt man ein uneingeschränktes „Ja“ zu hören.

Ganz nach vorne ins Bewusstsein der Bewohner

Die 150 Plakate mit 20 Sprüchen gehören zu einer 25 000 Euro teuren Kampagne, mit der die Stadt ganz nach vorne ins Bewusstsein der Bewohner, aber auch in das von Touristen, Kunden und Fachkräften treten möchte. Dieses Ziel formuliert Anna Bierig, Geschäftsführerin der StaRT Stadtmarketing und Tourismus.

Typischer Befund für „Hidden Champions“

Eine Umfrage bei 10 000 Menschen hatte vor sieben Jahren erbracht, dass Reutlingen als Wirtschaftsstandort, Einkaufsstadt und mit attraktiver Lage punkten kann, viele aber mit der Stadt wenig verbinden. Oft seien zufällige Besucher positiv überrascht über das Angebot Reutlingens – ein typischer Befund für „Hidden Champions“.

Überraschungseffekt in Erwartungshaltung umwandeln

Diesen Überraschungseffekt in eine Erwartungshaltung verwandeln und damit die Stadtmarke aktivieren will die Werbekampagne, deren Aufschlag die Plakataktion mit den Negativsprüchen bildete. Auf allen Plakaten stand zusätzlich der Satz „ Reutlingen kannst du nicht mögen “. An diesem Montag gab es die Auflösung: Die Plakate werden mit dem Zusatz „Nur lieben“ beklebt und damit ins Positive gewendet.

Die Aktion hat einen Diskussionsprozess ausgelöst

Die Aktion hatte damit eine Diskussion in der Stadt und den Medien ausgelöst. Einige stimmten der Kritik zu, andere verteidigten ihre Heimatstadt, die Meinungen waren kontrovers bis in die Schulen hinein und die Debatte wurde medial in ganz Deutschland weitergeführt. „Damit wurden die Erwartungen an die Kampagne natürlich übertroffen“, freut sich die Stadtmarketing-Chefin, die von etwa 80 Prozent positiver Rückmeldungen zu der Aktion spricht.

Kritik könnte wörtlich genommen werden

Eine Negativ-Kampagne birgt Risiken, könnte Kritik wörtlich genommen werden . Trotzdem hätten alle Instanzen mitgezogen. Die Entscheidung für eine Tübinger Agentur sei kurz vor Weihnachten 2023 gefallen, seither arbeiten Stadtverwaltung und Markenbeirat – ein Gremium mit Wirtschafts- und Verwaltungsvertretern – an der Umsetzung. Dabei gab es weniger Sorgen um Werberisiken: „Hut ab, dass alle dichtgehalten haben“, sagt Bierig, denn wenn die Planungen durchgesickert wären, hätte der entscheidende Überraschungseffekt für den Kampagnenauftakt gefehlt. Offenbar haben alle an einem Strang gezogen.

Nicht alle Menschen bringen die notwendige Medienbildung mit

Risiken sieht auch die Fachwelt. „Die Gefahr besteht, dass nicht alle die Ironie der Kampagne verstehen“, sagt Verena Hüttl-Maack, Lehrstuhlinhaberin für Marketing und Konsumentenverhalten an der Uni Hohenheim. Nicht alle Menschen brächten die notwendige Medienbildung mit, doch nach ihrer Einschätzung dürfte das die Minderheit sein. Die Professorin weist aber auf den Effekt der Reaktanz hin, dem gegenteiligen Verhalten von Menschen zu dem, was man offenkundig von ihnen will. Im Reutlinger Fall ist das der Widerspruch zur Werbebotschaft, mit dem ja Betrachter auf die Plakate reagiert haben. „Unterm Strich eine gelungene Kampagne“, so Hüttl-Maack.

Mutige Destinationskampagne

Ihre Kollegin Conny Mayer-Bonde, Dekanin am DHBW Center for Advanced Studies in Heilbronn, spricht von einer mutigen Destinationskampagne, deren erstes Ziel, Aufmerksamkeit zu wecken, mehr als erfüllt worden sei. Gerade die Liebeserklärungen, zu denen die Kampagne die Reutlinger in der Fortführung zum Nur-Lieben-Aufkleber aufruft, bringen differenzierte Geschichten zutage – ein gutes Beispiel für Storytelling. „Diese Geschichten bieten sich für Social Media geradezu an“, sagt die Expertin, die auf diesem Kanal sich noch mehr Aktivität vorstellen kann. Insgesamt verwendet Mayer-Bonde die Charakterisierungen „erfrischend“ und „sympathisch“.

Reutlinger Kampagne geht andernorts weiter

Mit dem resonanzstarken Aufschlag ist die Aktion allerdings nicht abgeschlossen. Stadtmarketingchefin Bierig hofft auf weitere Liebesbekundungen zu Reutlingen. Außerdem sind Aktionen in anderen Städten geplant. Wie die aussehen, dazu sagt Bierig vorerst nichts – die geheimnisvolle Kampagne geht also weiter.

Wenn sich Aufmerksamkeit negativ auswirkt

Aufmerksamkeit lässt sich mit kontroverser Werbung leicht erregen. Nicht immer hebt diese aber das Image einer Kommune. Dies musste die Stadt Triberg (Schwarzwald-Baar-Kreis) vor einigen Jahren erleben. Im örtlichen Parkhaus waren „Männerparkplätze“ ausgewiesen mit dem Slogan „Steile Berge, feuchte Täler“, ergänzt um eine weibliche Silhouette. Die Aktion schaffte es in die Medien, wurde aber wegen Frauenfeindlichkeit scharf kritisiert.

Die Webseite zur Kampagne finden Sie hier.

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