Landkreise sind beim Rechtsanspruch im Dilemma
Friedrichshafen. Wer keinen Kitaplatz für sein Kind bekommt, kann den Anspruch vor Gericht geltend machen. Im Bodenseekreis mit rund 225 000 Einwohnern haben sich zu diesem Schritt bisher nur sehr wenige Eltern entschlossen. Seit 2019 wurden in elf Fällen Klage erhoben. Nur eine war erfolgreich, teilt das Landratsamt auf Anfrage mit. „Hier wurde der Landkreis verpflichtet, einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen“, so Kreissprecher Robert Schwarz. Alle anderen Klagen wurden abgewiesen, weil auf den letzten Drücker doch ein Angebot unterbreitet werden konnte.
Doch die Not der Eltern ist deutlich größer. Denn die Zahl derer, die sich bisher Hilfe suchend ans Landratsamt gewandt haben, ist zehnmal so hoch wie die Klagen. Und auch diese Zahl dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein. In den vergangenen fünf Jahren haben sich 110 Familien beim Jugendamt gemeldet, da ihnen ihre Wohnortgemeinde keinen Kitaplatz anbieten konnte oder Öffnungszeiten wegen Personalmangels reduziert werden mussten, so die Kreisbehörde. 30 Familien haben wegen dieser Probleme eine Klage angedroht, um Druck zu machen. Mit Erfolg: In der Regel, also bei knapp 100 Fällen, gab es dann doch einen Kitaplatz oder ein anderes Betreuungsangebot.
Landkreis dringt auf eine Vereinbarung mit den Kommunen
G erade bei den unter Dreijährigen klaffen Angebot und Nachfrage stark auseinander. So hatten im vergangenen Jahr 955 Familien in Friedrichshafen bei der Stadt einen Kitaplatz beantragt. Zur Verfügung standen nur 627 Plätze. Ein Drittel der Familien ging folglich leer aus. Aber nur acht von 328 Familien, die keinen Platz bekamen, kündigten eine Klage an. Das könnte sich in Zukunft ändern. Schon 2023 rechneten viele Kommunen im Land mit einer Klagewelle. 2022 entschied der Verwaltungsgerichtshof zugunsten eines berufstätigen Ehepaars aus Böblingen und ihrer Tochter. Tenor: Der Landkreis müsse den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz erfüllen, selbst wenn er das wegen des Erziehermangels für unmöglich halte.
Dieses Musterurteil, so die Befürchtung vieler Kommunen, ermutige viele Eltern, einen Kitaplatz einzuklagen. Diese Sorge teilt offenbar auch der Bodenseekreis. Er dringt aktuell auf eine Vereinbarung „zur Erfüllung des Rechtsanspruchs Kinderbetreuung“ mit seinen 23 Städten und Gemeinden. Denn der ist als Träger der öffentlichen Jugendhilfe gesetzlich verpflichtet, für ausreichend Kitaplätze zu sorgen – nicht die Kommunen. Der Landkreis selbst ist kein Kita-Träger. „An ihn können sich Kinder und Eltern wenden und ihn verklagen“, bestätigt Robert Schwarz.
Aktuell ist der Landkreis in der Zahlungspflicht
Mit der Vereinbarung will der Landkreis die Bedarfspläne der Städte und Gemeinden auf dem Tisch haben. Darin steht, ob es genügend Kitaplätze vor Ort gibt oder eben nicht. Er will auch frühzeitig von fehlenden Plätzen oder Betreuungsengpässen erfahren. Darüber hinaus will der Kreis regeln, dass eine Kommune die Kosten selbst trägt, wenn Eltern erfolgreich klagen. Denn aktuell ist der Landkreis in der Zahlungspflicht. Die Kosten sind nicht unerheblich. Gerichte sprechen Eltern üblicherweise Schadenersatz für den Verdienstausfall zu, wenn das Kind zu Hause bleiben muss. Finden Eltern selbst eine Betreuung, die aber deutlich teurer ist als ein Kitaplatz vor Ort, steht ihnen der finanzielle Mehraufwand zu. Nicht zuletzt droht ein Zwangsgeld von 5000 Euro pro Einzelfall.
Die Stadt Friedrichshafen ist zwar bereit, die Kooperationsvereinbarung mit dem Landkreis abzuschließen, nicht aber, die Kosten zu übernehmen. Sie beruft sich auf eine Einschätzung des Gemeindetags. Der empfiehlt eine Vereinbarung, die den Ablauf regelt, sollte ein Betreuungsplatz nicht oder nicht in der gewünschten Zeit zur Verfügung stehen. Dabei komme es immer auf die konkreten Inhalte an. Die Frage, wie eine Einstandspflicht der Städte und Gemeinden geregelt werden soll, könne „nicht einseitig geregelt werden“, so ein Sprecher des Gemeindetags. Hier sollte ein ausgewogenes Miteinander der Interessen des Landkreises und im Idealfall der Summe der Kommunen widerspiegeln.
Der Landkreis muss über die Kreisumlage zahlen
Die Bewertung sei eine Frage des Einzelfalls, zu der sich der Gemeindetag nicht öffentlich äußere. Jedenfalls regele das Kitagesetz, dass die Gemeinden bei den Aufgaben der Kinderbetreuung herangezogen werden, aber damit sei „keine Delegation der Aufgaben im Sinne einer echten Zuständigkeitsverlagerung verbunden“. Das heißt: In der Pflicht stehen die Stadt- und Landkreise.
Im Bodenseekreis ist die Haltung zu diesem Thema klar. Solange die Gemeinden nicht bereit seien, die Kosten für ihre Fälle zu übernehmen, müsse der Landkreis über die Kreisumlage zahlen. „In diesem Fall ist die kommunale Familie im Kreis mit den Problemen einzelner belastet.“ Dies soll durch die Regelung im Kooperationsvertrag vermieden werden, so das Landratsamt.
Große Betreuungslücke für Kinder im Krippenalter
Laut einer Bertelsmann-Studie von Ende 2023 fehlen im Südwesten 59 400 Betreuungsplätze, 1800 mehr als im Vorjahr. Zugleich fehlen 18 330 Erzieher, um alle Kinder betreuen zu können, deren Eltern dies wünschen. Besonders groß ist die Lücke laut Studie für Kinder im Krippenalter. Knapp 30 Prozent der unter Dreijährigen werden in einer Kita betreut. 45 Prozent der Eltern wünschten sich aber eine Betreuungsmöglichkeit für ihr Kind in dieser Altersgruppe.