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Migrationspolitik

Hilft die EU-Asylreform den Kommunen?

Städte und Gemeinden am Limit, Populisten im Umfragehoch. Die hohen Zugangszahlen der Geflüchteten in den Südwesten setzen Politik und Verwaltung unter Dauerstress. Experten und Kommunalvertreter schauen in diesen Tagen hoffnungsvoll auf die geplante EU-Asylreform.

Sie diskutierten in Heidelberg über die Migrationspolitik der EU: OB Boris Palmer, Kommissionsvertreter Fabian Lutz (zweiter von links), Migrationsstaatssekretär Siegfried Lorek (rechts) und Rechtsanwältin Sylvia Kaufhold.

Justiziministerium)

Heidelberg. Boris Palmer spricht bei der Podiumsdiskussion Klartext, wie man es von ihm gewohnt ist. Er ist während seiner Auszeit kein Diplomat geworden. Auch nicht, wenn es um das Thema Migration geht, und um EU-Vorgaben „die kein Mensch versteht“. Beispielsweise dass Menschen ihren Pass wegwerfen können und Schutz erhalten. Für Tübingens parteilosen Oberbürgermeister ist klar: Die Flüchtlingszahlen müssen runter. Für wirksam hält er Grenzverfahren für diejenigen, die ohne Papiere nach Europa kommen. „Das einzige wirksame Rezept gegen Populismus sind wirksame Lösungen“, sagte er. Bei der Diskussion erhält Palmer den meisten Applaus.

Thema des Symposiums Migration in Heidelberg war die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Das Justizministerium hatte Experten aus Wissenschaft, Politik und Verbänden in das Alte Hallenbad eingeladen. Sie diskutierten an zwei Tagen über die Flüchtlingssituation im Land und den Kommunen. Dass es einen großen Reformbedarf gibt, darüber waren sich alle Teilnehmer einig. Die Kommunen sind am Anschlag, so ihre Vertreter: Gemeindetagspräsident Steffen Jäger betonte in seiner Rede, dass die Grenze des Machbaren vielerorts überschritten sei. Der Gemeindetag ist deshalb für schnellere Asylverfahren und eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas.

Städte wie Tübingen sind die Orte, wo sich die Vorgaben und Gesetze an der Wirklichkeit messen lassen müssen. Sie sind für die Unterbringung und die Integration der Geflüchteten zuständig. Sie brauchen dafür Schulen, Kitas und Wohnraum. Auch weil der letzte Flüchtlingsgipfel in Berlin aus kommunaler Sicht nur Schritte in die richtige Richtung brachte, blicken die unteren Ebenen jetzt gebannt nach Straßburg und Brüssel. Dort befinden sich die Verhandlungen zur Asyl-Reform in der heißen Phase.

„Das Flüchtlingssystem kostet mehr Menschenleben als es rettet“

Das EU-Parlament hatte das EU-Asylrecht in seiner jetzigen Form verabschiedet – es sind weltweit höchste Standards: Wer EU-Boden betritt und den Wunsch nach Asyl bekundet, hat ein Recht auf ein Verfahren. Daran erinnerte EU-Kommissionsvertreter Fabian Lutz in seinem Beitrag. Er berichtete, dass es für eine Obergrenze im EU-Parlament keine Mehrheit gebe. Vielmehr gehe es in der Reform unter anderem darum, Verfahren zu beschleunigen, so der Rechtsberater der Kommission.

Szenenwechsel, weg vom Alten Hallenbad in der Innenstadt, hin zum Ankunftszentrum vor den Toren Heidelbergs: Auch das Land muss mit den hohen Flüchtlingszahlen umgehen. Deutlich wird das in Heidelberg, im Patrick-Henry-Village. In den ehemaligen Kasernen der US-Army sind rund 2000 der 3500 Plätze belegt. Hier werden viele der Geflüchteten, die in den Südwesten kommen, registriert, dann geht es weiter in die vorläufige Unterbringung der Stadt- und Landkreise.

Die Bänke in der Halle, in der die Geflüchteten nach ihrer Ankunft warten, sind am Donnerstagmorgen, kurz bevor das Symposium beginnt, nur zu einem Viertel besetzt. Links und rechts stehen Kabinen, in denen Männer und Frauen ohne Ausweispapiere durchsucht werden können. Denn gerade aus Ländern mit geringer Schutzquote gibt es viele, die keinen Ausweis mit sich führen.

Im Ankunftszentrum wird der Reformbedarf konkret. Nach Heidelberg kamen beispielsweise im Oktober knapp 50 Prozent der Erstantragsteller aus der Türkei, ihre Anerkennungsquote liegt bei 14 Prozent.

Wie geht man mit jenen um, die keinen Schutz genießen, die aber dennoch in Europa ihr Glück versuchen? Diese Frage beschäftigt den Migrationsforscher Ruud Koopmans. Für ihn ist das jetzige Flüchtlingssystem ungerecht und gefährlich, sagte er digital zugeschaltet beim Symposium. Ungerecht, weil nur diejenigen Asyl begehren können, die es an die EU-Außengrenzen schaffen, weil nur sie die Kraft und das Geld dazu haben. Und gefährlich, so der Professor von der Humboldt-Uni, weil viele auf der Flucht über das Mittelmeer ertrinken. „Das europäische Flüchtlingssystem kostet mehr Menschenleben als es rettet“. Außerdem spiele die Zuwanderung den Populisten in die Hände. Geflüchtete würden als politisches Druckmittel gegen Europa, etwa von Belarus, benutzt. Eine Lösung sieht Koopmans in den Migrationsabkommen mit Drittstaaten. Denn Rückführungen scheiterten oft. Das müsse die Reform verbessern.

Und auch diejenigen, die über einen sicheren Drittstaat einreisen, müssten eigentlich dorthin zurück, wenn es nach dem Dubliner Übereinkommen geht. Doch „Dublin ist dysfunktional“, sagte Migrationsministerin Marion Gentges (CDU) beim Besuch im Ankunftszentrum. Italien habe 2022 keinen einzigen Geflüchteten zurückgenommen. Noch eine Baustelle für die EU.

Für Gentges ist die Asyl-Reform eine Chance: für den Schutz der europäischen Außengrenzen, Migrationsabkommen mit Drittstaaten und die schnelle Rückführung von denen, die am Ende des Verfahrens kein Aufenthaltsrecht bekommen. „Wir sind so weit, wie wir noch nie waren, Europa sollte diese Chance nutzen“, sagte sie.

Im Sommer streikten die PIK-Stationen

So lange sich auf der EU-Ebene nichts tut, bleibt den Mitarbeitern im Ankunftszentrum nur, die Abläufe so zu optimieren, dass sie auch große Zugangszahlen managen können. Doch sie haben mit innerdeutschen Herausforderungen zu kämpfen: Momentan bleibt ein Geflüchteter nur rund 14 Tage in Heidelberg, im Sommer waren das noch mehrere Wochen, auch weil die Geräte für die PIK-Stationen streikten, mit denen Fingerabdrücke erfasst werden. Auch jetzt machen die Schnittstellen Probleme. Ausgerechnet als die Zugangszahlen besonders hoch waren, ging nichts mehr. Das Land kann kaum etwas tun, weil der Bund für die Geräte zuständig ist. Zum Glück waren die Mitarbeiter dazu bereit, die Rückstände am Wochenende aufzuholen. Gentges dankte ihnen für den Einsatz.

Ginge es nach vielen Bürgermeistern und Landräten, würde das Land Flüchtlinge nur dann in die Kommunen verteilen, wenn ihr Aufenthaltsstatus geklärt ist. „Nur die weiterzugeben, die einen Anspruch haben, das wäre ein starkes Signal an die Menschen“, so der Tübinger Oberbürgermeister mit Blick auf den Druck aus der Bevölkerung.

Doch laut Migrationsstaatssekretär Siegfried Lorek (CDU) reichten die Plätze dafür in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen (LEA) nicht aus. Das Land tue sich bei der Standortsuche für LEA schwer, weil Kommunen nicht bereit seien, weitere Geflüchtete bei sich zu beherbergen.

Dabei bringe eine Erstaufnahme viele Vorteile mit sich, so Lorek. Diese Vorteile wollten nicht alle, beispielsweise die Einrichtung in Ellwangen im Ostalbkreis, von der die Kommune gut profitiert habe, aber nun nach dem Willen der Stadt geschlossen werden soll.

Der „vielleicht weltweit erste Willkommensstadtteil“ entsteht

Die Stadt Heidelberg hat offensichtlich ihr Privileg erkannt und will im „Patrick-Henry-Village“ ein neues Ankunftszentrum errichten und die einstigen Kasernen und jetzigen Unterkünfte unter anderem zum Arbeits- und Wohnort für Wissenschaftler entwickeln. Vor den Toren der Stadt soll hier der „vielleicht weltweit erste Willkommensstadtteil“ entstehen, wie es Heidelbergs Sozialbürgermeisterin Stefanie Jansen bei der Begrüßung der Symposium-Teilnehmer sagte. Möglich ist das auch dank einer Konversionsfläche außerhalb der Kernstadt. Doch die haben die wenigsten Kommunen.

Steffen Jäger beschrieb das wachsende Unverständnis der Bürger und nannte ein Beispiel, von dem ein Bürgermeister berichtet habe. In einer Stadt könnte derzeit kein Wohnraum aufgrund von Vorgaben beim Artenschutz entstehen, einziges laufendes Projekt: Die Errichtung von Containern für die Unterbringung. Jäger betonte, dass diese Sichtweise in der Bevölkerung vorherrsche und man darauf eingehen müsse. Die EU-Reform sollte zügig kommen.

Ob das so schnell geht? Die Verhandlungen über das mehrere Hundert Seiten starke Regelwerk seien komplex, so Kommissionsvertreter Lutz. Wenn es nicht vor Weihnachten eine Lösung gebe, wird die Reform das neue Europaparlament verabschieden, das im Juni gewählt wird.

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