Gemeindetag konfrontiert Kretschmann mit Kritik 

Das war die kommunalpolitische Kundgebung des Gemeindetags: Kummerkasten und Stelldichein der Spitzenpolitik, Klassentreffen und Selbstvergewisserung. Das Patentrezept für den Bürokratieabbau blieb selbst der Verfassungsgerichtspräsident schuldig.

Gegenwind aus dem Publikum bekam Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) bei der kommunalpolitischen Kundgebung des Gemeindetages zu spüren.

Peter Schwab)

Villingen-Schwenningen. Eigentlich war der Anlass der kommunalen Kundgebung des Gemeindetags dessen „goldene Hochzeit“, zu der Innenminister Thomas Strobl (CDU) launig gratulierte. Vor 50 Jahren kamen die badische und württembergische Sektion des Interessenverbands zusammen, seither agiert der Gemeindetag im Südwesten landesweit. Vielleicht lag es am Überdruss an der Baden-Frage, sicher aber am Gegenwartsdruck, dass es kaum zur Vergangenheitsbetrachtung kam. Stattdessen ging es um Schmerzpunkte, welche die Handlungsfreiheiten von Kommunen einschränken.

Und wenn doch Vergangenheit, dann die ganz große: Aus der Paulskirchenverfassung leitete der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, die kommunale Selbstverwaltung her, die im Mittelpunkt seines Vortrags zur Rolle der Kommune für die Zukunft des demokratischen Rechtsstaats stand. Darin spielten weder Digitalisierung noch Bürgerbeteiligung eine Rolle, obwohl beide Aspekte sicher die Wucht hätten, Gewissheiten zur Demokratie zu erschüttern. Dem Verfassungsrichter ging es um die Sicherheit des staatlichen Aufbaus, insbesondere um die Gewaltenteilung als deren Garantie.

Zentralgewalten erlauben einen gefährlichen Durchgriff

Die Gemeinden spielen hierbei als Teil einer horizontalen Gewaltenteilung eine wichtige Rolle. Harbarth wies auf zwei Folgen hin: Demokratie sei viel schwerer zu beseitigen, wenn eine staatliche Zentralgewalt den Hindernissen der Ebenen ausgesetzt ist. Und: Zentralistische Staatsmodelle seien für Bürger weniger attraktiv als dezentrale, bei denen vor Ort wichtige Entscheidungsbefugnisse erhalten bleiben.

Als Demokratiegaranten in Bedrängnis sehen sich die Kommunen im Lande, so war wohl auch die Botschaft der anschließenden Podiumsdiskussion zu verstehen. Innenminister Strobl, zu dessen Beritt auch das Kommunale zählt, listete die Belastungsfaktoren auf. Wegnahme von Kompetenzen, Austrocknung des Finanzstroms aber vor allem Überforderung durch Aufgabenzuweisung könne die Eigenständigkeit der Kommunen beseitigen. Zumindest bei der Kommunalausstattung wollte der Minister keine Unmutsbekundungen aus dem Publikum gelten lassen, die sei im Bundesvergleich hierzulande nämlich die beste.

Jäger fordert eine Konzentration auf das Wesentliche

Die Aufgabenfülle beackerte Gemeindetagspräsident Steffen Jäger. Er verlangte angesichts der überbordenden Bürokratie und des Fachkräftemangels eine Fokussierung auf wesentliche Dinge. So verzweifelte er am Paragrafen 2b Umsatzsteuergesetz, der nun auch für Kommunen gilt: „Wir schaffen es nicht, das Ding aus der Welt zu kriegen.“

Das gilt auch für die Bürokratie im Allgemeinen, denn Verfassungsrichter Harbarth, selbst einst als  Bundestagsmitglied Teil der Bürokratieproduktion, hatte wie alle anderen des rein christdemokratisch besetzen Panels kein Patentrezept. „Es wird an einigen Stellen übertrieben“, mehr sagte der Jurist auf die Frage von Moderatorin Stephanie Haiber nicht.

Persönlicher Realitäts-Check mit ernsten Ergebnissen

Wirklich nur an einigen Stellen? Aus seiner Sicht ganz viele Übertreibungen nannte Jäger in seiner Rede am Vormittag, an dem die Riege der politischen Ehrengäste parteipolitisch deutlich diverser aufgestellt war. Jäger unterzog aktuelle Regelungen einem persönlichen Realitäts-Check: Bei der Migrationspolitik sei für viele Gemeinden oft die Grenze des Machbaren überschritten. Die Energiewende könne nur mit einem technologieoffenen Ansatz gelingen, der neben Sonne und Wind etwa auch die CO2-Verpressung einbezieht.

Der ÖPNV werde nicht durch ein 49-Euro-Ticket, sondern durch mehr Mittel für den Netzausbau gefördert. Für die Ganztagesbetreuung an den Grundschulen gebe es zwar einen Rechtsanspruch, aber kein Förderprogramm. Zahlen zur Flächenversiegelung seien mit Vorsicht zu genießen und der Personalmangel muss zur Verringerung des staatlichen Leistungsangebots führen. Bei Sätzen wie „Das Ziel eines einzelfallgerechten Fürsorgestaats kann kein Staat der Welt erreichen“, fühlte sich das fast ausschließlich männliche Publikum selbst bestätigt: Stehende Ovationen.

Kretschmann arbeitet sich am Sicherheitsdenken ab

Beim Ministerpräsidenten tat sich die kommunale Familie hingegen schwerer mit dem Applaus. Kretschmann machte das Sicherheitsdenken auf allen Ebenen als Quelle der Bürokratie und Regelungswut aus und fragte in die Runde: „Wollen Sie hinstehen, wenn etwas passiert?“ „Machen wir ja“ war aus dem Unmuts-Chor herauszuhören.

Er pries die Entlastungsallianz, die Politik mit zahlreichen Verbänden eingegangen ist, und nannte als Begründung: „Jetzt haben wir das Personal nicht mehr, um so filigran zu regieren wie in den vergangenen 70 Jahren. Wir können so nicht weitermachen.“ So arbeitete sich der Ministerpräsident an den Kritikpunkten ab, wollte aber mit einer positiven Botschaft enden, denn nur mit Zuversicht könne man die Leute mitnehmen. Er pries daher die Energiewende als wichtiges Zukunftsprojekt des Landes, zu dem die Kommunen ihren Beitrag leisten könnten – ausgerechnet ein Bereich, der von starker Bürokratisierung geprägt ist.

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