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Bürgermeisterwahlen: Verwaltungserfahrung ist wichtiger als die Herkunft
STUTTGART/OSTELSHEIM. Das Medieninteresse an Ryyan Alshebl ist enorm in diesen Tagen. Sogar die „New York Times“ hat sich bei ihm gemeldet. Kein Wunder: Der 29-Jährige ist der erste syrischstämmige Bürgermeister in Deutschland. Anfang April wurde er zum Rathauschef in Ostelsheim gewählt.
Nach dem Abitur hatte er in Syrien ein Studium der Finanzwissenschaft und der Bankbetriebslehre aufgenommen. Als er den Kriegsdienst leisten sollte, entschied er sich zur Flucht. 2015 war er über das Mittelmeer nach tagelangem Fußmarsch über Passau nach Karlsruhe gekommen, wo sein Bruder lebt, der am KIT studiert hat. Später kam er nach Calw. Über eine Integrationsmaßnahme des Arbeitsamts machte er ein Praktikum bei der Gemeinde Althengstett (beide Kreis Calw).
Für den Bürgermeister war Alshebl eine Bereicherung
In acht Jahren vom Geflüchteten, der kein Deutsch spricht, zum Bürgermeister einer schwäbischen 2500-Einwohner-Gemeinde: Was hat diese schier unglaubliche Geschichte möglich gemacht? Alshebl kann wichtige Faktoren nennen. So hatte er mit Clemens Götz einen Rathauschef in Althengstett, der sich im Nahen Osten gut auskennt und dort selbst humanitäre Projekte unterstützt. „Als er mir sagte, dass er Bekannte im Libanon hat, war das für mich ein Schock, ein positiver“, sagt Alshebl und lacht. Schließlich sei der Libanon weder Frankreich noch England, sondern ein kleines Land neben Syrien. Götz habe ihn als Bereicherung begriffen, erklärt er.
Alshebl bewarb sich dann in Althengstett auf einen Ausbildungsplatz zum Verwaltungsfachangestellten. Er wurde angenommen, obwohl er damals sehr schlecht Deutsch gesprochen habe und er Zweifel hatte, ob das alles klappt. „Es war ein Experiment“, sagt er. Heute ist seine Aussprache fehlerfrei, sodass er bei der Kandidatenvorstellung seine Vision für Ostelsheim vorstellen konnte – und auf Anhieb gegen zwei Konkurrenten gewählt wurde. Geholfen hat Alshebl vielleicht auch, dass Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ihn im Wahlkampf unterstützte. Er selbst ist Mitglied der Grünen, war aber parteilos angetreten.
Alshebls Wahlerfolg markiert eine Entwicklung, die sich schon länger abzeichnet: Mehr junge Bürgermeister mit Migrationshintergrund werden gewählt. Der vermutlich erste Rathauschef im Land mit türkischen Wurzeln, war Ozan Topcuogullari, der im Jahr 2016 in der Gemeinde Klettgau im Landkreis Waldshut erfolgreich war.
Vor rund zwei Jahren wurde der 29-jährige Jurist Hakan Günes (CDU) zum Bürgermeister von Sandhausen (Rhein-Neckar-Kreis) bestimmt und seit rund drei Wochen ist klar, dass der 26-jährige Selcuk Gök (SPD) neuer Chef im Rathaus von Tengen (Kreis Konstanz) wird. Bislang war er Fachangestellter für Arbeitsdienstleistungen bei der Arbeitsagentur. Timur Özcan (SPD), 31 Jahre, ist seit 2019 Bürgermeister in der Gemeinde Walzbachtal (Landkreis Karlsruhe). Er ist Absolvent der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl.
Auch Anfeindungen gibt es in den Wahlkämpfen
Özcan verweist auf die Verwaltungserfahrung der neuen Bürgermeister. Für ihn zeigen die Wahlsiege, dass es zuerst auf die Personen und ihre Fähigkeiten ankomme, die Herkunft sei dann eher Nebensache. „Die Wähler können sehr wohl beurteilen, ob ein Bewerber geeignet ist oder nicht, unabhängig von der Herkunft, wie die Wahlergebnisse zeigen. Und das ist gut so“. Er betont aber auch, dass ein Kandidat mit Migrationsgeschichte genauer unter die Lupe genommen werde. Anfeindungen in den Wahlkämpfen, von denen Alshebl berichtete, seien leider Realität, wenn auch nicht in Walzbachtal, erklärt er.
Der laut Medienberichten erste schwarze Bürgermeister im Land war John Ehret. Er gewann 2012 die Wahl in seiner Heimatgemeinde Mauer (Rhein-Neckar-Kreis). Wie Alshebl heute hat er damals einen Medienhype um seine Person erlebt. Der 52-jährige ehemalige Kriminalbeamte betont, dass er in Deutschland geboren wurde, den Heimatdialekt spreche und die Menschen gut kenne, wodurch seine Herkunft kein Thema war. Nur bei Bürgermeister- oder Gesellschafterversammlungen werde ihm manchmal bewusst, dass er der einzige Nicht-Weiße sei. Eine Bewährungsprobe für alle Rathauschefs sei letztlich die Wiederwahl, die Ehret 2020 glückte.
Ein großes Medienecho hat auch die Wahl von Joy Alemazung (CDU), gebürtiger Kameruner, in Heubach (Ostalbkreis) 2022 ausgelöst. Ehret hat ihm gratuliert und seine Unterstützung angeboten.
Geringer Anteil von Migranten im Amt
Genaue Daten, wie viele Bürgermeister mit Migrationshintergrund es im Südwesten gibt, liegen nicht vor. Michael Kara, Bürgermeister von Oggelshausen, hat die Anzahl der Rathauschefs mit nicht deutschem Namen in seiner Bachelorarbeit für die Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg ausgewertet: Von den zwischen 2005 bis 2020 untersuchten 1880 Bürgermeisterwahlen haben demnach 84 Bewerber mit einem solchen Migrationshintergrund die Wahlen gewonnen.
Ihr Anteil lag somit bei 4,47 Prozent und war deutlich niedriger als der damalige Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Baden-Württemberg, der bei 33,8 Prozent lag.