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Neues Kommunalwahlrecht: Bewerber dürfen nicht zurückziehen
Großerlach. Beinahe hätte es für eine Entscheidung im ersten Wahlgang am letzten Januar-Sonntag gereicht. Großerlach (Rems-Murr-Kreis) hat sich zwar mehrheitlich für Kevin Dispan als neuen Bürgermeister entschieden, doch für die absolute Mehrheit fehlten zwölf Stimmen. Ein großer Erfolg für den 30-jährigen Verwaltungsfachmann war das trotzdem. Der Marbacher musste vor der Wahl zugeben, dass er sich bei einer Bewerbungsrede in einem Wahlforum von den Worten einer Kandidatin in Sulzbach zumindest hatte inspirieren lassen.
Auf diese Rede will der Zweitplatzierte aber nicht eingehen. Für den Stuttgarter Melih Göksu ist sein Stimmenanteil von gut einem Drittel so enttäuschend, dass er am liebsten seine Kandidatur aufgeben würde. Viel zu sehr hätten Vorbehalte gegenüber seiner Person eine Rolle gespielt. Deshalb stellt der 33-Jährige den Wahlkampf ein. Seinen Namen werden die Großerlacher am 18. Februar trotzdem auf dem Wahlzettel finden. Den Rückzug von der Kandidatur sieht das neue Wahlrecht in Baden-Württemberg ausdrücklich nicht vor.
Bis 2023 gab es quasi zwei Bürgermeisterwahlen
Vor der Gesetzänderung im August 2023 gab es im Südwesten oft quasi zwei Bürgermeisterwahlen hintereinander. Wenn im ersten Wahlgang kein Bewerber die absolute Mehrheit erreicht hat, konnten teilnehmende Kandidaten zurückziehen, was oft durch politische Absprachen der Lager im Gemeinderat flankiert war. Neue Kandidaten durften den Finger heben. Das einzige Risiko für diese Spätberufenen war, dass durch die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang ihre Chance vorbei war. Laut neuer Rechtslage gibt es nach dem ersten Wahlgang eine Stichwahl mit den beiden bestplatzierten Kandidaten. Alle Bewerber verpflichten sich mit der Bewerbung im Zweifel über zwei Urnengänge im Rennen zu bleiben, falls der erste nicht mit einem Ergebnis mit absoluter Mehrheit endet. Dies könne man den Bewerbern um ein Bürgermeisteramt zumuten, lautete die Begründung im Gesetzgebungsverfahren.
Das beanstanden die Kommunalverbände in Baden-Württemberg nicht. Immerhin gebe es keine Bestimmung über die Intensität, mit der ein Wahlkampf zu führen sei. Am Ende müsse ein Gewählter die Wahl ja annehmen, heißt es vom Gemeindetag. Allerdings wollen Kandidaten wie Melih Göksu den Wahlsieg gar nicht ausschlagen. „Sollte ich trotzdem die Wahl gewinnen, müsste ich mit Vereinen und anderen gesellschaftlichen Gruppen ins Gespräch gehen, bevor ich zusagen kann,“ sagt der Großerlacher Ex-Kandidat. Ihn treibt eher die vermutete Chancenlosigkeit zur Aufgabe. Doch darauf nimmt das Reglement keine Rücksicht.
Dieses ist ohnehin bekannt, lautet der Einwand des Städtetags. Zudem werde kein Interessent zur Kandidatur gezwungen. Die mit der Bewerbung einhergehenden Verpflichtungen würden die Rechte der Kandidierenden nicht eingeschränkt, so der Interessenverband.
Jurist Pautsch verweist auf einen Wertungswiderspruch
Dem widerspricht Arne Pautsch. Der Professor an der Verwaltungshochschule Ludwigsburg war Sachverständiger im Gesetzgebungsverfahren und erinnert an das passive Wahlrecht, das auch das Recht umfasst, die Kandidatur aufzugeben. Diese Option genieße immerhin einen Grundrechtsstatus.
Daraus leitet Pautsch zwar keine Verfassungswidrigkeit ab, der Jurist verweist aber auf einen Wertungswiderspruch. Mit der Kandidatur begeben sich die Bewerber auf den Weg zum Beamtenstatus, den das Bürgermeisteramt bietet. Bei allen anderen Verfahren, die mit diesem Status enden, gibt es für die Kandidaten immer die Option, aus welchen Gründen auch immer, hinzuwerfen. Nur nicht beim Wahlbeamten im Chefzimmer des Rathauses.
Wie einheitlich kann der Urnengang in zwei Etappen überhaupt sein?
Außerdem fragt er, ob das Verfahren wirklich so einheitlich ist wie im Gesetz angenommen. Zwischen der ersten und zweiten Wahl liegen zwei bis vier Wochen – in einem Wahlkampf ist das eine lange Zeit. Deshalb erscheine ihm eine gesetzliche Rückzugsoption als die passende Lösung, eine Position zwischen der vollständigen Kandidatenfreiheit der alten und dem strengen Ausschluss der aktuellen Gesetzeslage.
Als Misstrauensvotum gegen die Stichwahl will Pautsch seine Kritik aber nicht verstanden wissen. Er begrüßt ausdrücklich die aktuelle Regelung, weil sich daraus eine besondere Legitimation ergebe. Immerhin kann der Sieger auf eine absolute Mehrheit spätestens im zweiten Wahlgang verweisen. Bei der Stichwahl gibt es keine leere Zeile mehr wie im ersten Wahlgang, in der Wähler ihren Wahlvorschlag eintragen können (siehe Kasten).
Mit der Wahlrechtsreform hat Baden-Württemberg in Sachen Stichwahl mit den meisten Bundesländern gleichgezogen, wobei es gerade in der Frage des Kandidatenrückzugs etliche Varianten gibt. So erlaubt das Kommunalwahlrecht von Mecklenburg-Vorpommern, dass ein Stichwahlkandidat zurückzieht und dem nächstbesten Bewerber den Vortritt lässt. Anders in Niedersachsen, dort bleibt nach dem Rückzug nur ein Kandidat übrig. Die Wahl findet zwar trotzdem statt, aber mit einer anderen Fragestellung: Der verbliebene Kandidat muss die Stimmenmehrheit gewinnen. Diese Regel könnte sich Pautsch als besonders grundrechtskonforme Regel auch für Baden-Württemberg vorstellen.
Der Sonderfall der leeren Zeile
Die leere Zeile auf dem Zettel der ersten Runde bei den Bürgermeisterwahlen führt nur selten zum neuen Amtsinhaber. In Emeringen (Kreis Tübingen), wurde 2010 Josef Renner als ehrenamtlicher Bürgermeister quasi über die leere Zeile gewählt. Kandidaten gab es nicht, der Wahlzettel war leer. Wenn jetzt ein Stichwahlkandidat über die leere Zeile bestimmt wird, kann er die Teilnahme ablehnen. Macht er mit, muss er wählbar sein und dies beeiden.