Inklusion in der Bildung: Rückschritte oder Fortschritte?

Die Erwartung waren groß, die Ernüchterung ist es auch. Seit 15 Jahren gilt die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BKR) in ganz Deutschland. In Baden-Württemberg kommt die Inklusion an allgemeinbildenden Schulen dennoch nicht voran.

Schulfüller und Stundenplan mit der Aufschrift Inklusion

IMAGO/Christian Ohde)

„Wir sind zutiefst besorgt“, schreiben die Fachleute vom Deutschen Institut für Menschenrechte, die regelmäßig die Fortschritte und vor allem den Nachholbedarf analysieren, „denn rückschrittliche Politiken und Maßnahmen nehmen in den Bundesländern zu.“ Zwar habe sich seit Inkrafttreten der UN-Konvention der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen, die Regelschulen besuchten, von 20 auf 44 Prozent mehr als verdoppelt, noch immer allerdings hielten Länder auch an Sonder- oder Förderschulen fest. In Baden-Württemberg heißen die inzwischen sperrig Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren ( SBBZ ), sind eingeteilt nach den Förderschwerpunkten Lernen, geistige Entwicklung, Hören, körperliche und motorische Entwicklung, Sehen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung sowie ein Angebot für Schüler und Schülerinnen in längerer Krankenhausbehandlung.

Sorge um inklusive Bildung: Rückschrittliche Politiken und Maßnahmen nehmen zu

“Ohne ein inklusives Bildungssystem, in de, Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen, kann der Aufbau einer inklusiven Gesellschaft aber nicht gelingen und das Recht auf inklusive Bildung nicht eingelöst werden“, heißt es auch im jüngsten Monitoringbericht.  Das Statistische Landesamt ( Stala ) hat auch den weiteren Trend berechnet. Trotz Inklusion werde es zu einem Anstieg der Schüler/-innenzahl der SBBZ bis auf 57 900 im Schuljahr 2030/31 führen. Damit läge sie um knapp 15 Prozent über dem im Schuljahr 2018/19 verzeichneten Wert. Die Zahl der an allgemeinen Schulen inklusiv beschulten Schülerinnen und Schüler könne in diesem Zeitraum auf 12 200 von 8 900 zunehmen.

Mehrfach in Studien belegt ist, dass, so lange Sonder- oder Förderschulen bestehen, die auch genutzt werden. Derartige Strukturen verhinderten aber die selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben, kritisiert die „Aktion Mensch“ zum 15. Jubiläum. Gerade im Bildungsbereich gelte aber, dass 70 Prozent der Jugendlichen in Förder- oder Sonderschulen diese ohne anerkannten Bildungsabschluss verlassen. Das Kultusministerium weist darauf hin, dass die Bildungsabschlüsse allgemeiner Schulen „angestrebt“ seien, ebenso wie die Orientierung an den Bildungszielen allgemeiner Schulen. Zugleich gebe es eigene Bildungsabschlüsse in den Förderschwerpunkten Lernen und geistige Entwicklung. Für das Deutsche Institut für Menschenrechte, das als „unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution“ fungiert, kontert mit einer Vorgabe aus der Konvention: Kinder und Jugendliche „mit und ohne Behinderungen sollen zusammen lernen und aufwachsen, Förderschulen müssen schrittweise abgebaut werden“. Und das wiederum sei seit 2009 geltendes Recht in Deutschland.

Mit der aktuellen Evaluierung sind Handlungsempfehlungen verbunden, die ebenfalls eine ganz bestimmte Richtung vorgeben. Darunter, dass „tradierte Sonderstrukturen schrittweise ab- und inklusive Angebot aufgebaut werden“ und bestehende finanzielle und personelle Ressourcen  im Sinne der UN-Konvention umverteilt werden müssen. Auch letztere sind aktuell für Baden-Württemberg untersucht. Der Verband Bildung und Erziehung ( VBE ) hat eine Umfrage vorgelegt, wonach die Arbeitsbelastung an den SBBZ als sehr hoch und der Personalmangel als sehr groß beschrieben wird. Nur gut die Hälfte der Befragten hält die Stimmung im Kollegium für gut oder eher gut. Allerdings haben sich überhaupt nur 453 der 16 000 Lehrkräfte an den öffentlichen und privaten Förderschulen im Land beteiligt.

Inklusion als bildungspolitisches Ziel

Der VBE sieht dennoch seine Kritik an der Arbeitsbelastung von Sonderpädagogen und -innen bestätigt. Er fordert vor allem mehr Studienplätze und den Wegfall des Numerus Clausus im Sonderpädagogik-Studium sowie eine umfassende Vorabqualifikation für Quereinsteiger und den Aufbau einer qualifizierten Krankheitsreserve. „Wir wissen um die angespannte Situation an unseren SBBZ und steuern dagegen an“, sagt Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne). Seit 2008 seien die Ausbildungskapazitäten mehr als verdoppelt worden und mit einem neuen Standort in Freiburg stünden jetzt knapp 700 Studienanfängerplätze bereit. An der derzeitigen Doppelstruktur will die Landesregierung festhalten, wiewohl im Koalitionsvertrag „Inklusion zur Aufgabe aller Schulen und Schularten“ und zum „vorrangigen bildungspolitischen Ziel“ erklärt worden ist.

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