Immer mehr Menschen ziehen in Baden-Württemberg in Dörfer und Kleinstädte
STUTTGART/BERLIN. Immer mehr Menschen in Deutschland ziehen aufs Land und in Kleinstädte. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung und der Wüstenrot Stiftung. Trotz aktueller Wanderungsgewinne würden viele ländliche Gemeinden weiterhin auf demografischem Schrumpfkurs bleiben, so das Fazit. „Wenn deutlich mehr Menschen sterben, als Kinder auf die Welt kommen, reichen selbst hohe Wanderungsgewinne nicht aus, um die Sterbeüberschüsse auszugleichen. Die Verantwortlichen in den Gemeinden sollten daher ebenfalls im Blick behalten, wie sie mit der Schrumpfung umgehen und sich altersfreundlich aufstellen.“
Untersucht wurden die Wanderungsstatistiken der statistischen Ämter von 2008 bis 2020
auf Gemeindeebene. Während von 2008 bis 2010 Menschen vorwiegend in die Großstädte zogen und ländliche Regionen viele Einwohner verloren haben, deutet sich in dem Zeitraum von 2018 bis 2020 eine Trendwende an. In Baden-Württemberg stieg der Wanderungssaldo von Landgemeinden von -3,7 (2008 – 2010) auf 4 (2018 – 2020). Bei Großstädten sank der Wanderungssaldo von 4,5 auf -0,4. Größere Kleinstädte hingegen, kleine Kleinstädte und Mittelstädte konnten an Saldo gewinnen (siehe Infografik oben).
Was ist ein Wanderungssaldo?
Das Wanderungssaldo gibt die Differenz der Zu- und Fortzüge pro 1.000 Einwohner über den bestimmten Zeitraum an. Ein Wanderungssaldo von fünf im Zeitraum von 2018 bis 2020 bedeutet, dass zwischen 2018 und 2020 im Schnitt jährlich fünf Menschen pro 1.000 Einwohner mehr hinzugezogen als weggezogen sind.
Für die Zuwanderungsverluste in Großstädten macht das Institut unter anderem das knappe Wohnungsangebot und die steigenden Immobilienpreise verantwortlich. Immer weniger Menschen könnten sich ein Leben in attraktiven Innenstadtlagen noch leisten. Das treffe vor allem viele junge Familien, die auf der Suche nach größeren Wohnungen an den hohen Mietpreisen in Großstädten verzweifeln.
Doch Zuwächse können nicht alle ländlichen Regionen verzeichnen. Das Institut untersuchte 460 Kommunen in Baden-Württemberg. Zu diesen, die von 2018 bis 2020 die niedrigsten Wanderungssalden in Baden-Württemberg verzeichnen, gehören laut Zahlen des Berlin Instituts Pfalzgrafenweiler (-15,7), Ammerbuch (-6,2) und die Landgemeinde Forbach (-7). Während sich Pfalzgrafenweiler und Forbach gegenüber dem Zeitraum 2008 bis 2010 verschlechtert haben, stieg der Saldo von Ammerbuch leicht an, bleibt aber immernoch im Minus (-9,1 von 2008 bis 2010). Pfalzgrafenweiler hat im Vergleich zu 2008 bis 2010 besonders viele Einwohner einbüßen müssen (von 1,8 auf – 15,7).
Zu den Kommunen mit den höchsten Wanderungssalden in Baden-Württemberg gehören demnach Bad Krozingen (19,7), die Gemeinde Schliengen (17,9) und Oberderdingen (14,8). Oberderdingen hat einen besonders großen Sprung von -1,1 auf 14,8 machen können.
Bundesweiter Trend
Laut der Analyse des Berlin Instituts schrumpften 2008 bis 2018 bundesweit 72 Prozent der Landgemeinden und 66 Prozent der Kleinstädte, weil mehr Menschen fort- also zuzogen. Vor allem größere Städte und ihr Umland gewannen Bewohner durch Umzüge hinzu.
2008 erzielten nur die Großstädte im Schnitt Wanderungsgewinne. Die durchschnittlichen Wanderungssalden aller Gemeindetypen stiegen in den folgenden Jahren. Das Wanderungsplus der Großstädte stagnierte ab 2012 auf hohem Niveau. Seit 2013 verzeichneten auch die kleinen Landgemeinden insgesamt Wanderungsgewinne.
Einen Einfluss hatten auch die Schutzsuchenden: Rund 1,2 Millionen beantragten 2015 und 2016 in Deutschland Asyl. Die meisten von ihnen kamen 2015 an und wurden auf alle Gemeindetypen verteilt, deren Wanderungsgewinne sich in etwa verdoppelten.
Salden gleichen sich an
2017 nahm die neue Landlust an Fahrt auf: Die durchschnittlichen Wanderungssalden der größeren und kleineren Gemeindetypen begannen, sich einander anzugleichen. Im letzten Jahr vor der Pandemie 2019 lagen sie fast gleichauf. Die Corona-Pandemie verstärkte diese Entwicklung: 2020 stürzte die Wanderungsbilanz der Großstädte ins Negative auf -0,9 pro tausend Einwohner. Landgemeinden und Kleinstädte legten dagegen zu und verzeichneten die höchsten Wanderungsgewinne von im Schnitt über fünf Personen pro tausend Einwohner.
Das Wanderungsgeschehen ist insgesamt ausgeglichener. Gemeinden und Städte jeder Größe gewinnen inzwischen im Schnitt Einwohner durch Zuzüge hinzu. Dies ist möglich, da im aktuellen Zeitraum 2018 bis 2020 im Jahresschnitt mit 316.000 rund sechzehnmal so viele Menschen im Saldo aus anderen Ländern nach Deutschland zugewandert sind als ein Jahrzehnt zuvor.
Landlust ist kein Selbstläufer
Die Entwicklung sei aber kein Selbstläufer, stellt das Institut fest. Vor allem Familien- und Berufswander zieht es heute aufs Land. „Gemeinden, in denen die Anbindung ans Datennetz nicht für das Arbeiten im Homeoffice ausreicht, kommen für sie häufig nicht in Frage. Bund und Länder sollten dafür sorgen, dass der Glasfaseranschluss so selbstverständlich wird wie jener ans Strom- und Wassernetz.“
Junge Familien bräuchten Kitas, Schulen, aber auch Nachmittagsangebote für ihre Kinder sowie fußläufig erreichbare Angebote und soziale Treffpunkte. Ein Dorfladen, ein flexibler Rufbus oder E-Bike-Sharing, ein Jugendzentrum oder Räume für kulturelle Veranstaltungen könnten den Unterschied machen.
„Die Verantwortlichen in den Gemeinden sollten offen sein für innovative Ideen und gemeinsam mit neuen und eingesessenen Bewohnern passende Lösungen entwickeln“, heißt es abschließend.