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Brückenbauen über den Rhein und zwischen Menschen
Kehl. Auf beiden Seiten des Rheins wird in den Straßen schon deutlich, wie untrennbar Straßburg und Kehl durch die mittlerweile vier Brücken miteinander verbunden sind: Überall spricht man beide Sprachen, die Tram stoppt nicht an der Landesgrenze und die EU ist allgegenwärtig. „Die europäischen Institutionen mit Sitz in Straßburg und besonders das Europaparlament wirken sich auch in Kehl deutlich aus“, bestätigt Annette Lipowsky , die Verantwortliche für grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Stadt Kehl. Abgeordnete wie Mitarbeiter übernachteten auf der deutschen Rheinseite, kauften ein oder besuchten Restaurants.
Erlebbar wird die EU auch in den zahlreichen Interreg-Projekten , die von der EU mitfinanziert werden. Zehnjähriges Bestehen feiert dieses Jahr die deutsch-französische Krippe. „Wir haben Brücken gebaut aus Stahl und Beton, da bauen wir Brücken zwischen Familien, die sind mindestens genauso wichtig wie über den Rhein“, sagt Annette Lipowsky .
Kulturelle Unterschiede überwinden
Am Anfang hätten sie allerdings die kulturellen Unterschiede unterschätzt – pädagogische Fachkräfte aus Deutschland und Frankreich seien einen verschiedenen Umgang mit Kindern und unterschiedliches Arbeiten gewohnt. Seit eine interkulturelle Mediation mit im Boot ist, kämen viele Missverständnisse und Konflikte nicht mehr auf. Insgesamt funktionierte das Konzept von Anfang an sehr gut: „Wir hatten nie Probleme, die 30 Plätze je Seite zu belegen.“
Solche Leuchtturmprojekte vereinen die 40 000-Einwohner-Stadt auf der deutschen mit der knapp 500 000 Einwohner starken Eurometropole auf der französischen Seite. Annette Lipowsky räumt aber ein: „Natürlich hat eine kaum noch spürbare Grenze nicht nur Vorteile.“ Zum Beispiel im Stadtbild: Geldspielautomaten dürfen in Deutschland in jeder Kneipe stehen, in Frankreich nur im Casino. Und die stetig steigende französische Tabaksteuer lässt Zigaretten in Deutschland im Verhältnis immer günstiger werden. Als Resultat sind die großen Straßen in Kehl gepflastert mit Tabakläden und Glücksspielangeboten.
Wenn jemand Französisch sprach, wurde die Polizei gerufen
Dass zumindest die gedanklichen Brücken über die Grenze auch Risse bekommen können, hat die Corona-Pandemie 2020 gezeigt. „Dieser rheinübergreifende Lebensraum funktioniert nur noch als Einheit“, sagt Annette Lipowsky . Getrennt breche vieles zusammen. „Wir wussten das, aber uns hat keiner gefragt, die Grenze wurde einfach dichtgemacht.“ Die Tram fuhr nicht mehr – mehrere Tausend Menschen auf beiden Seiten des Rheins, die auf der jeweils anderen Seite arbeiteten, durften aber auch auf anderem Weg nicht mehr über die Grenze, um ihren Arbeitsplatz aufzusuchen. Als dann zumindest die Systemrelevanten wieder nach Deutschland durften, galt weiterhin ein Einkaufsverbot für Franzosen. Wenn in Kehl jemand Französisch sprach, wurde die Polizei gerufen. Mindestens hagelte es Anfeindungen für die „Corona-Franzosen“ – auch wenn die frankophonen Menschen schon seit Jahren in Deutschland lebten.
„Die Tigermücke fährt übrigens auch Auto und Tram“
Kontrollen, wie sie etwa für die Fußball-Europameisterschaft im Juni geplant sind, sind für Annette Lipowsky übrigens etwas völlig anderes als Schließungen. Nationale Grenzen seien im Alltag und der lokalen Politik oftmals wenig sinnvoll: „Wir haben damals bei Tschernobyl immer rumgewitzelt, dass die Wolke einfach über dem Wasser kehrtmacht, und beim Coronavirus war es auf einmal wieder so.“ Viel mehr noch als die Städte und Menschen bilden Natur und Umwelt über den Rhein hinweg eine Einheit: „Die Tigermücke fährt übrigens auch Auto und Tram.“
Doch auch bei Mensch und Politik gelte es, nicht zu lamentieren, sondern auch nach 30 Jahren grenzüberschreitender Arbeit weiterhin Lösungen zu finden, die beide Rheinseiten brauchen – wie vor zehn Jahren die Krippenplätze oder aktuell ein gemeinsames Wärmenetz. Denn: „Grenzüberschreitende Arbeit funktioniert am besten, wenn man auf die Bedürfnisse von Bürgern eingeht.“
Europäische Zusammenarbeit mit Interreg
Die „Europäische territoriale Zusammenarbeit“, auch Interreg genannt, unterstützt als Teil der Struktur- und Investitionspolitik seit mehr als dreißig Jahren die Zusammenarbeit zwischen EU-Ländern und Nicht-Mitgliedstaaten. Umgesetzt werden Projekte in Bereichen wie Energie, Umweltschutz und Verkehr, aber auch Themen wie Arbeitsmarkt und Soziales und Verwaltung übernehmen Vertreter der Behörden in den Grenzbereichen vor Ort.