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Sozialistisches Patientenkollektiv

Wie eine Selbsthilfegruppe 1975 in die Gewalt abrutschte

Das Sozialistische Patientenkollektiv in Heidelberg war eigentlich eine psychotherapeutische Selbsthilfegruppe. Doch vier Mitglieder greifen 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm an und scheitern mit dem Versuch Psychiatrie und Politik zu verbinden.

Bei dem Botschaftsdrama in Stockholm überlebten einige der Geiseln. Zwei Botschaftsangehörige und zwei Terroristen starben.

IMAGO/Aftonbladet/TT)

Heidelberg. Stockholm, 24. April 1975: Ein RAF-Kommando stürmt die deutsche Botschaft und nimmt Geiseln, um inhaftierte Weggefährten freizupressen. Am Ende sind zwei Botschaftsangehörige und zwei Terroristen tot. Vier der insgesamt sechs Angreifer gehörten zuvor dem Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) aus Heidelberg an. Wie konnte eine psychotherapeutische Selbsthilfegruppe in die Gewalt abrutschen?

Alles beginnt in den 1960er-Jahren. In vielen Nervenheilanstalten herrschen Zustände, die an Ken Keseys Psychiatrie-Roman „Einer flog über das Kuckucksnest“ erinnern: überdosierte Psychopharmaka, eisige Krankensäle, Elektroschocks. Wolfgang Huber, ein junger Psychiater der Uniklinik Heidelberg, versucht einen anderen Weg und entwickelt alternative Therapieangebote.

„Huber wurde zu einer Anlaufstelle für psychisch Kranke“

Der ärztliche Psychotherapeut und Medizinhistoriker Christian Pross, der damals in Heidelberg studiert hat, erinnert sich: „Huber wurde zu einer Anlaufstelle für psychisch Kranke, die schlechte Erfahrungen in den Mauern der Anstaltspsychiatrie gemacht hatten, für Studenten, die mit ihrem autoritären, prüden Elternhaus in Konflikt geraten waren sowie unter Prüfungsangst und Einsamkeit im anonymen Getriebe der Massenuniversität litten.“

Behandelt wurden diverse Krankheiten: von Suchtproblemen über Depressionen bis zu bipolaren Störungen. Hubers ärztliche Philosophie war stark von Diskursen der 68er-Bewegung geprägt. Durch Leistungsdruck und überschießende Konsumangebote, so die Überzeugung, bringe der Kapitalismus die Seele aus dem Lot.

Zunächst hielt der Klinikchef eine schützende Hand über seinen unkonventionellen Assistenten. Huber jedoch handelte immer eigenmächtiger. „Dass Huber sich in der Klinik zusehends isolierte“, erläutert Pross, „hing unter anderem mit dem Misslingen seiner Habilitation zusammen. Er verweigerte den kollegialen Austausch, den Peer-Review. Zudem nahm er nicht mehr an Fallbesprechungen und Fortbildungen teil.“ Auch das Gebot der therapeutischen Distanz zum Kranken missachtet der Arzt, indem er Patienten in seine Privatwohnung einlädt.

1970 will die Universität Huber entlassen, der daraufhin mit seinen Schützlingen die Klinikverwaltung besetzt. Schließlich findet man einen Kompromiss: Huber darf weiterbehandeln, wenngleich außerhalb der Klinik. Die Universität mietet ihm eigene Räume an. Erst ab jetzt firmiert das Therapie-Experiment offiziell unter dem Label „Sozialistisches Patientenkollektiv“ – und entgleitet.

„Um den großen Patienten-Ansturm zu bewältigen“, so Pross, „ernannte Huber einige ältere Patienten zu Laientherapeuten.“ Die jedoch seien mangels Vorbereitung mit der Betreuung Schwerkranker völlig überfordert gewesen.

Der Fokus des SPK verschiebt sich noch weiter auf das Politische. Bei den Sitzungen wird Hegel oder Marx gelesen. Therapeutisches Handeln und Kampf gegen das ‚kranke System‘ vermengen sich: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ – ist es Zufall, dass der Sponti-Hit von Ton Steine Scherben just im Jahr der SPK-Gründung erschien?

Huber hält sich für einen Che Guevara der Psychiatrie, besorgt Waffen und fährt mit einer ausgewählten Gruppe zu Schießübungen in den Odenwald. Als die Polizei ihn 1971 verhaftet, endet die Ära des SPK. Stefan Austs Buch „Der Baader-Meinhof-Komplex“ widmet dem Ganzen unter der provokanten Überschrift „Irre ans Gewehr!“ ein eigenes Kapitel. Tatsächlich schloss sich aber nur ein sehr geringer Prozentanteil nach Auflösung des Kollektivs der RAF an.

Der Psychiater hat seine Patienten nicht mehr adäquat behandelt

„Huber hat seine Patienten im Verlauf des Konflikts nicht mehr adäquat behandelt, sondern sie für seine absurden Vorstellungen von den psychisch Kranken als Speerspitze eines revolutionären Umsturzes missbraucht“, kritisiert Pross.

Während der Revolutionsdoktor aus dem Gefängnis bizarre Manifeste schrieb, gerieten ehemalige Gruppenmitglieder in schwere Krisen. Zwei begingen Suizid. „Historisch gesehen“, resümiert Pross, „stellt das SPK den ersten, aber gescheiterten Versuch der Selbstorganisation von psychisch Kranken dar.“

Ein Gericht verurteilt Huber unter anderem wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung zu viereinhalb Jahren Haft. Nach der Entlassung wird der SPK-Gründer zum Phantom. Angeblich habe er sich einer Kommune in Italien angeschlossen, die den Roten Brigaden nahestand. Andere behaupten, er sei nach Südamerika gegangen.

Psychiatriereform

Dass das SPK ausgerechnet in Heidelberg entstand, lag auch an der vergleichsweise innovativen psychiatrischen Kultur, die dort bereits um 1960 herrschte. Wolfgang Hubers Dienstherr Walter von Baeyer kannte von Studienreisen neue sozialpsychiatrische Verfahren aus den USA. Auf seinem Heidelberger Lehrstuhl setzte sich der Mediziner vehement für humanere Behandlungen ein und wurde ein Motor der Psychiatriereform.

Im Jahr 1975 wurde die westdeutsche Botschaft in Stockholm von der Roten Armee Fraktion RAF besetzt, die Polizei umstellte daraufhin das Gebäude. Foto: IMAGO/Aftonbladet/TT

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