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Wie William Turner den Londoner Nebel über dem Neckartal einfing

William Turner hinterließ dutzende stimmungsvolle Bilder der Nachwelt wie etwa ein Ölgemälde auf Leinwand, das eine Szene in Heidelberg zeigt.
wikimedia)Heidelberg/London. Die Briten kommen! Nach dem Sturz Napoleons 1815 begann das große Reisen. Besonders der Rhein mit seinen Burgen und Felsen wurde zum populären Sehnsuchtsziel der englischen Oberschicht. Doch weil sich bald mehr Menschen in die Gassen von Bingen oder Bacharach drängten, als den engen Städtchen guttat, wichen einige Reisende auf die Nebenflüsse aus. Wie William Turner (1775-1851).
Mindestens zweimal gastierte der Neckar-Tourist der ersten Stunde in Heidelberg , das seine internationale Berühmtheit nicht zuletzt dem Mann aus London verdankt. Obendrein sind Stippvisiten Turners an anderen Neckarorten belegt. Wenn England in diesem Frühjahr den 250. Geburtstag seines einflussreichsten Künstlers feiert, darf sich also auch der deutsche Südwesten mitrühmen. Denn die Gegend am Neckar inspirierte den Romantiker zu mehreren Arbeiten.
William Turners geheimnisvoll lichtdurchglühte Nebelstücke begründeten eine für die damalige Epoche revolutionäre Naturästhetik. Wasser, Luft und Licht wurden Kriterien für Stimmungen. Der zu Turners Markenzeichen gewordene goldbraune Schleierdunst verwandelte Landschaften in ein zauberschönes Paralleluniversum, das freilich hässliche Hintergründe hat.
Turner pflegte das dramatisch Verqualmte als Stilmerkmal
Forscher glauben, dass die poetische Diesigkeit in Wahrheit die im industrialisierten England bereits greifbar gewordene Luftverschmutzung widerspiegelt. Die Feinstaub-Moderne hatte begonnen. Turner pflegte das dramatisch Verqualmte zugleich als Stilmerkmal, denn Rauch und Dampf trüben auch Gegenden ohne schlotende Fabriken in der Nähe.
In Heidelberg jedenfalls dürften noch nicht so viele Verbrennungspartikel die Luft belastet haben, als Turner dort das Skizzenbuch beziehungsweise den Aquarellkasten auspackte. Sein Malerauge war sofort fasziniert vom Charme der Altstadt.
Auf dem Papier entstanden in schnellem Bleistiftstrich Zeichnungen des Karlstors, der Neckarbrücke oder der Heiliggeistkirche. Aquarelle wiederum verewigen die Stadt mal bei magischem Mondschein, mal unter einem Regenbogen. Oft arbeitete der Maler vom Boot aus.
Auch anderswo am Neckar machte Turner in den 1830er und 40er-Jahren Station. So in Heilbronn oder Esslingen . Aus Stuttgart existiert eine Zeichnung des Marktplatzes mit den Türmen der Stiftskirche im Hintergrund. Außerdem studierte Turner die Aussicht von der Uhlandshöhe auf den schwäbischen Kessel.
Dennoch, keine Stadt zog den Gast von der Insel so in ihren Bann wie Heidelberg. Dies lag vor allem an einem Baudenkmal: dem legendären Schloss, das im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1693 stark beschädigt worden war. Aus immer neuen Perspektiven blickte der Künstler auf die verwüstete Sehenswürdigkeit. Ruinen waren im England des frühen 19. Jahrhunderts ein beliebtes Motiv, weil sie den Gothic novels, den populären Schauerromanen, als atmosphärische Kulissen dienten. Darstellungen von verfallenen Großbauten aus Mittelalter und früher Neuzeit ließen sich entsprechend gut vermarkten.
Eines der bekanntesten Werke entstand 1844/45. Sein Titel lautet „Heidelberg Castle in the olden Time“, in jüngeren Publikationen auch „Castle in an Alpine Valley, called ‘Heidelberg’“. Das Gemälde gehört der Londoner Tate Gallery und zeigt das Heidelberger Schloss so, wie keiner von Turners Zeitgenossen es je gesehen hatte. Unzerstört wie in alter Zeit thront der Palastkomplex über dem Neckartal. Auch das verschneite Hochgebirge dahinter entspricht nicht den realen topografischen Gegebenheiten. In Turners schimmernder Erinnerung überlagern sich historische Kurpfalz und Alpen mit Londoner Nebelschwaden.
Vorne im Bild belebt eine barock gewandete Hofgesellschaft den Raum. Vermutlich spielt die verklärte Szenerie auf den Einzug Elisabeth Stuarts in Heidelberg oder eines ihrer Feste an. 1613 hatte die Tochter des englischen Königs Jakob I. den Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz geheiratet. Später erhielt Elisabeth den Beinamen „Winterkönigin“: Ihr Mann wurde 1619 zum König von Böhmen gewählt, um nach nur einem Winter Titel und Länder wieder zu verlieren.
In Heidelberg waren die Briten schon immer da
Trotzdem ist die Erinnerung an die Enkelin von Maria Stuart in Heidelberg bis heute lebendig geblieben. Die Anlage des Hortus Palatinus etwa soll auf Initiative der englisch-schottischen Prinzessin zustande gekommen sein. Vielleicht beabsichtigte Turner mit seiner Geschichtsträumerei, das historische Band zwischen England und der Neckarstadt zu erneuern. Die Briten mussten nicht kommen, sie waren schon immer da!
Turner und Deutschland
Im Jahr 1817 fuhr William Turner nach Deutschland. Die Kutscher waren genervt. Unterwegs wollte der Fahrgast ständig anhalten, um die Landschaft zu zeichnen. Anfangs galt Turners Interesse ausschließlich dem Mittelrhein. Von Köln aus ging es über Bingen und St. Goarshausen bis nach Mainz. Danach besuchte der Maler Deutschland noch mindestens viermal. Seine Aufenthalte am Neckar in den 1830ern und 1840ern sind unter anderem durch die Skizzenbücher aus der Londoner Tate dokumentiert.