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Französischer Regierungssitz an der Donau
Sigmaringen. Nicht einverstanden war Marschall Philippe Pétain, in Frankreich verehrter Held der Schlacht um Verdun im Ersten Weltkrieg, als er vor achtzig Jahren vom Kurort Vichy in der Auvergne in das Provinzstädtchen Sigmaringen an der Donau übersiedeln musste.
Seit dem Waffenstillstand 1940 zwischen der deutschen Wehrmacht und der französischen Armee war der 84-Jährige der Präsident des „Etat francais“, der im Südteil des Landes nicht unter deutscher Militärverwaltung stand. Die nach ihrem Sitz genannte Vichy-Regierung arbeitete mit dem Nazi-Regime zusammen und strebte – so der Historiker Clemens Klünemann – durch die „Révolution nationale“ eine „Volksgemeinschaft“ an, geprägt von Antisemitismus und der Mitwirkung bei der Deportation von Juden.
Die Umsiedlung Pétains und seiner Entourage nach Sigmaringen, gefolgt von 2000 Franzosen und Französinnen, war eine Folge der Landung der alliierten Truppen in der Normandie am 6. Juni 1944.
Außenminister von Ribbentrop befahl den Ortswechsel, um die Kollaboration des Vichy-Regimes mit den Nazis nicht zu gefährden.
Pétain fuhr in seinem offenen Talbot in den Schlosshof, eskortiert von rund 120 Mitgliedern der Waffen-SS mit Maschinengewehren, erinnert sich Erbprinz Friedrich Wilhelm von Hohenzollern im hohen Alter an diesen Vorfall.
Über dem Hohenzollernschloss wehte die Trikolore
Die Fürstenfamilie war in Schutzhaft genommen und im Stauffenberg-Schloss in Wilflingen untergebracht worden. Über dem Hohenzollernschloss wehte die Trikolore als Zeichen der von den Nazis eingesetzten „Commission Gouvernementale“. Pétain und der mit ihm in tiefer Abneigung verbundene Premierminister Pierre Laval betrachteten sich als Gefangene der Deutschen.
Als Marionettenregierung von Hitlers Gnaden hatten die Politiker keine Machtbefugnisse. Gipfel der Absurdität: die „Achsenmächte“ Italien und Japan sowie selbst Deutschland entsandten einen Botschafter nach Sigmaringen.
Die Zahl französischer Flüchtlinge stieg. Sigmaringen platzte aus allen Nähten. Ende 1944 zählte man mit bis zu 10 000 Personen rund doppelt so viel wie zu Normalzeiten.
Gerüchte über das Leben der Franzosen im Schloss machten die Runde – Jahre später im Roman „Von einem Schloß zum andern“ ausgeplaudert und als untaugliche Geschichtsquelle verfremdet von ihrem Landsmann Louis-Ferdinand Céline, Vertreter der literarischen Moderne und radikaler Antisemit.
Täglich wurde in der Nobelherberge ein Drei-Gänge-Menü serviert, aus Sicht der Bewohner wohl eher bescheiden: Selleriesuppe, Schleie blau, Butter und Salzkartoffeln, Griesschnitte zum Dessert. Im geschichtsträchtigen Gasthaus Löwen gab es – meist Kraut oder Rüben -, Lebensmittel waren rationiert.
Nervosität machte sich breit, als im März 1945 US-Truppen den Rhein überquerten. Das Gastspiel der Regierung auf fremdem Terrain endete im April 1945. Pétain setzte sich in Richtung Schweiz ab. Sigmaringen wurde französische Besatzungszone.
Begrüßt wurde General Charles de Gaulle auf französisch mit einem Graffiti eingeritzt in eine Schlossmauer: „…Es lebe Pétain. Tod dem verrückten blutrünstigen de Gaulle“. Die dunkle Seite der „Vichy-Monate“ wurde verdrängt. Die „Schwäbische Zeitung“ titelte jüngst sogar: „Tabuthema in Sigmaringen“.
Dem entgegenwirken an historischer Stätte will das Zwei-Personen-Stück „Sigmaringen Triptychon“ von Johannes Stürner und Gerhard Zahner. Nach langem Schweigen berichten Zeitzeugen worüber es kaum Aufzeichnungen gibt: Erschießungen im Prinzengarten zurückgebliebener Landsleute durch französische Soldaten, Vergewaltigungen und Jagd auf SS und SA-Mitglieder.
Geschichten von Zeitzeugen und aus dem Archiv
In Sigmaringen existierten zwei Geschichten, „die der Zeitzeugen und die des Archivs“ wird Zahner in der Lokalpresse zitiert. Der Historiker Clemens Klünemann erweitert den lokalen Blickwinkel und bemängelt in seinem Buch „Sigmaringen. Eine andere deutsch-französische Geschichte“ (Berlin 2019) nicht nur die Darstellung der Vichy-Regierung in Sigmaringen als „bizarre Episode“.
Bei der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags 1963 wäre es laut Klünemann deshalb „durchaus sinnvoll gewesen… an diese deutsch-französische Vergangenheit zu erinnern“. Bis heute sei sie demnach ein blinder Fleck in den Beziehungen zwischen beiden Ländern.
Antisemitismus als Bindemittel
Für den Historiker Clemens Klünemann ist Antisemitismus das Bindemittel zwischen deutschen Besatzern und Franzosen während der Kollaboration der 1940er-Jahre. Er sieht diese Phase „aus dem versöhnenden Gedächtnis der frühen 1960er-Jahre ausgegrenzt“ und betrachtet die „schillernde Ideologie“ bei Kriegsende nur für verschwunden, jedoch keinesfalls überwunden. Seine Studie beleuchtet dieses düstere Kapitel der deutsch-französischen Beziehungen.